Renate Hoffleit – Michael Bach Bachtischa, genius loci concertante

Germany

Renate Hoffleit Saite -
Renate Hoffleit, Saite

 

Physikalische Eigenschaften von Langen Saiten

Die Saiteninstallationen basieren auf einer charakteristischen Gesetzmäßigkeit: Die Frequenzen von Langen Saiten sind stets umgekehrt proportional zu ihrer Länge. Was bedeutet das?

Ein einfaches Beispiel: Verdoppelt sich die Länge einer Saite, so ergibt sich die halbe Frequenz, oder umgekehrt: halbiert sich die Länge, so verdoppelt sich die Frequenz.

Saitenlänge-FrequenzJPG

Wenn die Länge einer Saite mit einem beliebigen Faktor multipliziert wird, so wird ihre Frequenz mit demselben Faktor dividiert. So lassen sich die Obertöne einer Langen Saite mit Saiten der Längen von 1/2, 1/3,1/4, 1/5 usf. der Ausgangslänge produzieren.

Saitenobertöne

Der Grund für diese Gesetzmäßigkeit liegt darin, daß für die Frequenz der Langen Saiten die Longitudinalschwingung bestimmend ist, also nicht die Querschwingung (Transversal-schwingung) sondern die Längsschwingung in Saitenrichtung von Endpunkt zu Endpunkt.

Longitudinal-Transversal

An der kausalen Verkettung von Frequenz und Länge, dem umgekehrt proportionalen Verhältnis, läßt sich nichts manipulieren, auch nicht mit einer Veränderung der Saitenspannung.

Diese Gesetzmäßigkeit ist ausschlaggebend dafür, daß Proportionen einer Architektur oder landschaftliche Dimensionen, die mit Langen Saiten hervorgehoben und definiert werden, direkt und unmittelbar in ein ortsspezifisches Tonsystem übersetzt werden. Eine Saiteninstallation in unserer Konzeption ist demnach visuell und akustisch immer an den Ort gebunden und nicht übertragbar.

Die akustischen Eigenschaften der Saiteninstallation „genius loci gehört

Die Saiteninstallation läßt sich in drei Teilbereiche STERN, PFEIL und FÄCHER gliedern mit einer alle drei Teile verbindenden Diagonalsaite (Saite N° 1).

 

Sammlung Domnick STERN PFEIL FÄCHER

 

Die Saiten N° 2 – 12 des STERN wurden bei der Eröffnung der Saiteninstallation am 22. Juni 2014 von Renate Hoffleit und mir zum Klingen gebracht, mit Ausnahme der kürzesten Saite N° 7.

Die Saiten des PFEIL erklangen ebenso bei der Eröffnung mit Ausnahme der noch nicht gespannten Saiten N° 14 und N° 15. Die Saiten des FÄCHER waren noch nicht gespannt mit Ausnahme der Saite N° 22, die jedoch aufgrund ihrer Höhe an Pappel und Haus nicht gespielt wurde. Die restlichen Saiten werden für das Konzert am 20. September 2014 noch installiert.

Jede dieser drei Teilinstallationen besitzt eine besonders tieffrequente Saite. Beim STERN ist dies die Saite N° 2 mit 48 Hertz, beim PFEIL die Saite N° 16 mit 45 Hertz und beim FÄCHER die Saite N° 22 mit 60 Hertz. Die Diagonalsaite N° 1 hat eine Frequenz von 22 Hertz. Diese tiefe Frequenz befindet sich an der menschlichen Hörschwelle.

Die beiden höchsten Saiten der Saiteninstallation, die Saiten N° 7 und N° 15 haben die Frequenzen 364 Hertz und 380 Hertz, was für die Cellokomposition „locus amoenus” eine besondere Bewandtnis hat.

Anläßlich der konzertanten Aufführung „genius loci concertante” am 20. September 2014 werden die Langen Saiten im Außenbereich gespielt simultan mit der Uraufführung von „locus amoenus” für Cello mit Rundbogen im Innern des Gebäudes. Die Zuhörer befinden sich zunächst ebenfalls im Innenraum, folgen aber am Ende der Aufführung dem Cellisten in den Außenbereich, wo die Klänge der Langen Saiten der Saiteninstallation den Abschluß bilden.

 

Michael Bach Cello -
Michael Bach, Cello mit Rundbogen

Cellokomposition „locus amoenus

Die vier längsten Saiten der Saiteninstallation „genius loci gehört” unterschreiten den Tonraum des Cellos, dessen tiefste Saite, die C-Saite, eine Frequenz von 66 Hertz aufweist.

Diese vier Frequenzen können aber mit Differenztönen indirekt am Cello erzeugt werden. Was sind Differenztöne?

Ein Differenzton ist die Differenz der Frequenzen zweier Ausgangstöne. Haben die Ausgangstöne beispielsweise eine Frequenz von 300 Hertz und 250 Hertz, so ergibt sich der Differenzton mit einer Frequenz von 50 Hertz.

Am Cello läßt sich ein Differenzton erzeugen, indem ein Doppelklang auf zwei Saiten gespielt wird. Der Differenztoneffekt ist unterschiedlich stark, manchmal ist er unhörbar, manchmal deutlich wahrnehmbar. Leicht hörbar sind Differenztöne, wenn zwei hohe Töne gespielt werden und der Differenzton deutlich tiefer ist.

Ein äußerst prägendes Charakteristikum von Differenztönen ist ihre Ungerichtetheit, d. h. sie „stehen” im Raum, sie lassen sich nicht orten, ganz anders als ihre Ausgangstöne, die unmißverständlich vom Instrument her erklingen. Diese Indirektheit verleiht den Differenztönen ein „jenseitiges” Attribut, d. h. sowohl einen unwirklichen als auch einen allgegenwärtigen Wesenszug. *)

Das Cellowerk beginnt mit einer „Âventiure“, die die vier tiefsten Frequenzen der Saiteninstallation mittels Differenztönen darstellt. Da in der ersten Hälfte des Cellowerks die Frequenzen der Saiteninstallation, welche mikrotonal sind, in temperierte Frequenzen des gebräuchlichen Tonsystems umgedeutet werden, ergibt sich noch eine Besonderheit. Die beiden höchsten Frequenzen der Saiteninstallation, die derart in die Tonhöhen fis und g übersetzt werden, welche die temperierten Frequenzen von 373 Hertz und 395 Hertz aufweisen, erzeugen den Differenzton von 22 Hertz. Somit entspricht die Frequenz des Differenztons der beiden kürzesten Langen Saiten in etwa der Frequenz der Diagonalsaite.

Nach dem Eröffnungsteil intoniert das Cello die Frequenzen der Saiten des STERN. Dies geschieht, wie bereits erwähnt, in der temperierten Stimmung, d. h. die mikrotonalen Frequenzen der Langen Saiten werden in das temperierte System eingepaßt, sozusagen zurecht gedacht. Währenddessen jedoch erklingen die Originalfrequenzen des STERN über eine Zuspielung von außerhalb des Gebäudes. Verwendet wird eine Tonaufnahme der Eröffnungsveranstaltung vom 22. Juni 2014. Eine gleichzeitige Live-Performance am STERN wäre aufgrund der großen Entfernung im Innenraum des Hauses unhörbar. Das Cello ergänzt sukzessive die noch fehlenden temperierten Frequenzen des STERN bis alle 12 Halbtöne der Oktav vollzählig sind.

Der zweite Teil beginnt auf der Grundlage der Frequenzen des PFEIL, indem zuerst im Außenbereich die Lange Saite N° 16 live gespielt erklingt. Ihr Klang dringt von außen durch geöffnete Fenster und Türen nach innen in den Konzertraum. Mit den Saiten des PFEIL, die allerdings relativ schwach zu hören sind, da ihre Resonatoren nicht am Haus befestigt sind, entsteht ein leiser Dialog. Das Cello führt einerseits Obertöne dieser Frequenzen aus und addiert andererseits zu den Grundfrequenzen des PFEIL diejenigen des STERN.

Der dritte Teil mit den nun deutlich hörbaren Saiten des FÄCHER, welche an einem Resonator am Haus erklingen, führt das Cello allmählich in den mikrotonalen Tonraum der Saiteninstallation ein. Die fünf Langen Saiten N° 24-28 an der Esskastanie, welche den Tonraum von f bis gis mikrotonal auffüllen, werden obertönig gespielt, währenddessen das Cello ihre Grundfrequenzen intoniert. Interessant ist, daß die Tonhöhen fis und g, eingerahmt mit f und gis, am Ende der Aufführung wieder stärker ins Bewußtsein gerückt werden. Betrachtet man die exakten mikrotonalen Frequenzwerte, so bildet das Intervall der Langen Saiten N° 24 und N° 26 den Differenzton mit 20 Hertz und das Intervall der Langen Saiten N° 27 und N° 28 den Differenzton mit 21 Hertz, dies entspricht wieder in etwa der Grundfrequenz der Diagonalsaite.

Saiten Esskastanie

Mit dem Erklingen der vorletzten Langen Saite N° 19 des FÄCHER verläßt der Rundbogen am Cello nun den üblichen Spielbereich der vier Saiten, indem er auch auf die kurzen Saiten hinter dem Steg übergreift. So entsteht zeitweise, zusammen mit den vier Saiten vor dem Steg, sogar ein achtstimmiger Zusammenklang.

Das Ertönen der letzten Langen Saite N° 22, die übrigens exakt eine Oktav tiefer als die direkt zuvor erklungene Saite ist,  führt am Cello zu einer aufsteigenden Intervallkette, deren Differenztöne der Grundfrequenz der Außensaite von 60 Hertz entsprechen. Allerdings werden diese Intervalle sehr leise gespielt, so daß deren immer gleicher Differenzton fiktiv bleibt. Die Lange Saite N° 22 tritt an dessen Stelle und “verkörpert” real diese Frequenz, womit sie akustisch endgültig in den Außenbereich lockt.

Damit beginnt die “Coda“. Der Cellist verläßt sein Instrument und begibt sich – zusammen mit den Zuhörern – nach außen, um gemeinsam mit der Saitenspielerin die verbleibenden drei längsten Saiten zu spielen.

Wird das Cellowerk zukünftig als Solowerk (ohne die temporäre Saiteninstallation) aufgeführt, so ist eine alternative “Coda” vorgesehen, die aus „untertönigen” Klängen besteht, welche mit übermäßigen Bogendruck erzeugt werden.

Michael Bach

Weiteres zur Saiteninstallation:
genius loci gehört


*)
In den 90er Jahren haben Pierre Dutilleux und ich eine Computersoftware am Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZLM) in Karlsruhe entwickelt, die Differenztöne von live gespielten Tönen in Echtzeit derart erzeugt, daß kein Unterschied zu den “natürlichen” Diffrenztönen wahrnehmbar ist. Um die Schallrichtung mit Lautsprechern zu eliminieren, ist entweder eine Rundumbeschallung nötig oder eine geschickte Ausnutzung architektonischer Gegebenheiten, wie z. B. eine Kuppel.

Es zeigte sich auch, daß das Gehör erst für die Wahrnehmung der Differenztöne “geschärft” werden mußte. Denn genau genommen handelt es sich bei einem “Differenzton” wieder um ein Klanggemisch von Differenztönen, die mit den gespielten Tönen verschmelzen können. Dies rührt daher, daß jeder gespielte “Ton” eigentlich aus seinem Grundton und seinen Obertönen besteht. Diese Obertöne bilden untereinander und mit den Obertönen anderer Grundfrequenzen wiederum Differenztöne.

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Unser Dank gilt Herrn Dr. Werner Esser, Kurator der Sammlung Domnick, und den Förderern des Projekts “genius loci gehört” / „genius loci concertante”:

KulturRegion Stuttgart
Stadt Nürtingen
LBBW Stiftung Kunst und Kultur

Flyer mit Konzert-Text -