Tossi Spiwakowski, Einführung zur Interpretation von J. S. Bachs Solowerken für Violine mit dem Rundbogen

Anläßlich des 20. Todestages von Tossi Spiwakowski ( 23. Dezember 1906 – 20. Juli 1998), welcher sich als einer der ersten Violinisten für die Interpretation der “Sonaten und Partiten” für Violine solo von J. S. Bach mit dem Rundbogen einsetzte, erscheint diese Übersetzung seiner Einführungsrede, die zusammen mit dem Live-Mitschnitt der “Chaconne” kürzlich unter dem Label DOREMI veröffentlicht wurde.


BACH Bow Tossy Spivakovsky
VEGA BACH Bow von Tossi Spiwakowski

Die sechs Werke für Violine solo von Bach verlangen von dem Ausführenden die Beherrschung von anscheinend unlösbaren technischen Problemen wie das Spielen von Mehrklängen und polyphoner Stimmführung. Es wird manchmal irrtümlich angenommen, daß Bach diese Akkorde arpeggiert haben wollte. Aber man kann klar aus Bachs eigener Handschrift dieser Werke erkennen, daß der Komponist deutlich zwischen gebrochenen und nicht gebrochenen Akkorden unterschied. Wenn er sie arpeggiert haben wollte, schrieb er das Zeichen “arp.” bei den entsprechenden Akkorden. Alle anderen Akkorde, ohne diese spezielle Angabe, sollten selbstverständlich ungebrochen gespielt werden, alle Akkordnoten erklangen gleichzeitig. Daher führt der uns wohlbekannte Klang, alle Akkorde notorisch zu brechen oder zu arpeggieren, zu Verzerrungen des geschriebenen Notentexts, was nicht nur klanglich unzufriedenstellend sondern auch unter dem musikwissenschaftlichen Gesichtspunkt inkorrekt ist.

Mithilfe des kürzlich hergestellten Rundbogens, der annähernd dem Renaissance- oder Barockbogen nachgestaltet ist, kann der Geiger heutzutage sogar vierstimmige Akkorde ungebrochen spielen. Man könnte sagen, daß es anachronistisch und deshalb unpassend sei, einen Rundbogen auf einer modernisierten Geige mit ihrem verlängerten Hals und Bassbalken zu benutzen. Doch dieser Einwand zählt nicht. Die Violine mit diesen Längen und Proportionen klingt lediglich voller, stärker und resonanter. Die Tonqualität bleibt dieselbe. Ich glaube, daß sehr wenig erreicht sein würde, wenn man für die Musik des 18. Jahrhunderts die alte Einrichtung der Violinen verwenden würde.

Es gibt freilich für die Solosonaten von Bach keine Aufführungstradition. Das Manuskript dieser sechs Werke blieb zu Bachs Lebzeiten unveröffentlicht. Sie wurden erst mehr als hundert Jahre nach dessen Tod aufgeführt. Infolgedessen lernte die Öffentlichkeit nur allmählig diese Werke kennen und das geschah zu einer Zeit, als der romantische Geist seinen Höhepunkt erreichte, in einer Periode also, die ziemlich weit vom Wesen der Bachschen Polyphonie entfernt war. Deshalb kann die Art und Weise, wie die Geiger in dieser Zeit diese Werke spielten, in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht als Leitbild für die Aufführung von Bach dienen. Tatsächlich steht sie, laut den aktuellen Erkenntnissen, den Absichten des Komponisten ziemlich konträr entgegen.

Deshalb verwende ich jetzt einen solchen Rundbogen.”

 

Live-Sendung des Schwedischen Rundfunks, Stockholm, 26. Januar 1969
DOREMI, Legendary Treasures, DHR – 8025