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Caspar Johannes Walter und Michael Bach im Gespräch über „Split Tones”

Germany

… und die Aufführungen am 24.01.2014 im Cello-Wettbewerb *)

 

Das Telefonat über die Komposition “Split Tones” für Cello solo von Caspar Johannes Walter fand am  23. November 2013 statt. Das Werk ist Pflichtstück beim Cello-Wettbewerb für Neue Musik und Auslobung des Domnick-Cello-Preises im Januar 2014 an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart.
Die Partitur kann unter der nachstehenden URL als pdf-Datei abgerufen werden:
http://www.mh-stuttgart.de/fileadmin/downloads/Sonstiges/Cello-Wettbewerb/CJWalter-SplitTones-Partitur.pdf


Michael Bach (MB): Heute morgen habe ich mal kurz in meinem Archiv nachgeschaut, seit wann wir uns kennen. Gefunden habe ich drei Briefe aus den Jahren 1989 und 1990 und dein Stück „Gugging” für Cello solo. Du hast es 1986 geschrieben und ich habe es sehr oft gespielt, eigentlich in der ganzen Welt, Holland, Japan, USA, Frankreich, Deutschland, … Wir hatten ja damals sehr viel zusammen gemacht. In dem letzten Brief sprichst du davon, daß du zu „Untitled Composition ” [für Cello und Klavier von Morton Feldman] gehen willst, das damals der Pianist Klaus-Steffes Holländer und ich gespielt haben. Das sind so Sachen, auch die Entstehung meines Buchs „Fingerboards & Overtones “, die du ja mitverfolgt hast (und auch eine kleine Korrektur angebracht hast: die doppelte Hochoktavierung des Violinschlüssels wird mit einer 15 und nicht mit einer 16 angezeigt), … das sind eben so Sachen, die halt mitschwingen, wenn ich jetzt mir dein neues Stück anschaue.

Das hat ja einen hohen Anspruch an den Cellist und die Hörer, weil es wirklich in Grenzbereiche reingeht, die sich vielleicht kaum orten lassen. Man kann sie natürlich definieren, wie das aber in der Praxis dann aussieht, hm, das ist immer eine Frage.

Ich finde das ungeheuer spannend, dieser Versuch, mikrotonale Unterschiede, ja, irgendwie „greifbar” zu machen. Und ich bin dann eigentlich nicht über die ersten Zeilen des Stücks hinausgekommen. Aber ich denke, daß wir doch einiges zusammen besprechen können, weil am Anfang schon ziemlich klar wird, in welche Regionen du hineindenkst.

Ja, wie kommt es dazu, daß du versuchst, diese Feinheiten, … auszuhören? …

Der Titel „Split Tones ” z. B., … Englisch, … natürlich könnte man diesen übersetzen mit geteilten Tönen, aufgeteilten Tönen, gesplitteten Tönen, usw. Ist das so richtig?

Caspar Johannes Walter (CJW): Der Titel ist abgeleitet von einer Spieltechnik, die es bei Blechbläsern gibt, besonders bei der Posaune. Das ist so eine Art „multiphonic”, wo man mit den Lippen zwischen die beiden Teiltöne bläst, die in der Nähe liegen und dann gibt es so ein Konglomerat aus den beiden Teiltönen, ein bischen verzerrt, es ist eine sehr komplizierte Technik der Blechbläser, aber die wird viel benutzt.

Beim Cello hatte ich dann auch eine Spieltechnik ausprobiert, also ein wenig entwickelt, die klanglich relativ ähnlich zu der Posaunentechnik ist, daß da eine Mischung von zwei verschiedenen Phänomenen gleichzeitig zu hören ist. Das würde ich beim Cello auch „split tone” nennen. Insofern ist es eine Übertragung einer Spieltechnik.

MB: Ist das, was z. B. Albert Mangelsdorf an der Posaune gemacht hat, also diese „multiphonics” …

CJW: Also Mangelsdorf hat ja gespielt und gesungen …

MB: Er hat gesungen, ja.

CJW: … das ist eine andere Art von „multiphonic”. Wenn man an der Posaune z. B. ein „b” spielt, der nächste Teilton ist auch ein „b” und der nächste ein „f” [3. Teilton], das machen ja immer die Lippen, die entscheiden, welcher Ton angeblasen wird. Aber wenn die Lippen jetzt ganz konsequent dazwischen etwas formen, was weder „b” noch „f” ist, dann kann sich die Posaune nicht richtig entscheiden, welchen Ton von beiden sie nehmen soll, und dann nimmt sie irgendwie beide.

MB: Ah ja. Ich habe eine solche Technik am Cello „coincidence” genannt, also ein Zusammentreffen von harmonischen Teiltönen. Das klingt am Cello, wenn man also zwischen die einzelnen Knotenpunkte greift, und keinen „richtig” sozusagen, dann klingt das ein wenig schon so, wie ein „multiphonic” auf einem Blasinstrument. Also eine Mixtur von …

CJW: Das ist ja eine richtige „multiphonic”-Technik, noch, daß man da verschiedene Flageoletts bekommt, wenn man „dazwischen” greift. Das ist allerdings klanglich anders. Bei den „split tones” ist es eine Mischung aus dem gegriffenen Ton der linken Hand und dem Punkt, wo der Bogen aufsitzt.

CJW T8 split tone

Notenbeispiel “split tone”

MB: Ja. Gut, darauf kommen wir nochmals später.

Jetzt, was mir auffällt, ist z. B. … gleich zu Beginn: Du hast den 10. Teilton auf der C-Saite, und du gibst auch gleich die Griffnotation mit, d. h. man greift den Knotenpunkt über dem „fis2″, das ist in diesem Fall …

CJW: 3/10tel von der Saite.

MB: Genau, der 3. Knotenpunkt vom Sattel [Saitenende am Wirbelkasten] aus gerechnet. Dann wird der Ton festgegriffen, es erklingt damit zusammen auch kurz die G-Saite, und dann entsteht ein Glissando bis zu einem erhöhten „as2″. Und dieses erhöhte „as2″ ist dann später der Knotenpunkt für den 8. Partialton.

Jetzt stellt sich bei mir die Frage, … weil ja auch ein „g2″ [G-Saite] dazu klingt, gehst du auch von Differenztonklängen aus, bei einer solchen Notation?

CJW: Da wird es in der Mitte einige Schwebungen geben zwischen dem „g2″ und dem Glissando. Das ist klar.

MB: Manchmal sind es keine Glissandi sondern statische Zusammenklänge, … und weil wir uns ja wirklich in einem ganz feinen, mikrotonalen Bereich aufhalten, stellt sich mir zunächst die Frage, vielleicht ist sie unnötig, aber wie wird das Instrument gestimmt? Gehst du von einer temperierten Stimmung aus?

CJW: Also ich würde sagen, man könnte das Instrument bei diesem Stück in reinen Quinten stimmen, das wäre möglich, ich habe ja nichts angegeben, also es funktioniert auch, wenn es temperiert gestimmt ist. Vielleicht wird es noch ein bischen besser klingen, wenn die Quinten rein gestimmt sind. Allerdings sind die tatsächlichen Intonationen der Flageoletts auch nicht ideal, die sind auch ein bischen „verzogen”, aber das ist ein viel größerer Faktor, als …

MB: Das habe ich jetzt akustisch nicht verstanden.

CJW: Also die hohen Obertöne, z. B. der 10. oder der 8. Partialton, sind sowieso etwas höher als erwartet.

MB: Ach so, du meinst, natürlich klar …

CJW: Die Saite ist dick, deswegen ist das Schwingungsverhalten nicht ideal und die Intonation ist nie die pur errechnete spektrale Intonation. Insofern gibt es keine absolute „Sauberkeit”. Deswegen denke ich, ob man jetzt temperiert stimmt oder rein, das macht bei diesem Stück keinen wesentlichen Unterschied.

MB: Ja, ich komme nur deswegen darauf, weil, wenn man jetzt mal die Tonhöhen tatsächlich errechnet, … also wenn ich mir jetzt mal überlege: dieses erhöhte „fis2″, das der Knotenpunkt für den 10 Partialton ist, und dann wird dieser Knotenpunkt fest gegriffen. Jetzt stellt sich zuerst einmal die Frage: Hast du hier eine Griffnotation notiert oder soll das erhöhte „fis2″ so erklingen, ja, als wenn es am Knotenpunkt gegriffen wäre?

CJW: Das Stück ist in wesentlichen Teilen praktisch aus den Griffmustern der linken Hand heraus entwickelt worden. D. h. ich habe oft geschaut, wie ich bei sehr kleinen Veränderungen, links, quantitativ oder qualitativ große Veränderungen in der Musik erreichen konnte. Also quantitativ ist, wenn es zwischen den Flageoletts einige Oktaven höher einen ganz anderen Ton ergibt, beim Lockergreifen [Flageolett] oder beim Festgreifen. Und qualitativ ist, wenn dies einen anderen harmonischen Kontext entwickelt. Da ist es schon eine wichtige Idee, daß man genau auf dem Knotenpunkt des Flageoletts einfach runter drückt, und der Ton, der so entsteht, ist dann der Ton, der da notiert ist mit dem gleichen Pfeil nach oben [mikrotonales Versetzungszeichen].

CJW T3-5

Notenbeispiel Takt 3-6

Da soll praktisch auf der C-Saite, die ein eigenes Spektrum hat, aus Obertönen von „c2″, wozu dieser 10. Teilton auch gehört, da soll dann plötzlich ein Spektrum von „fis2″ entstehen, indem dieses „e5″ der 7. Teilton ist. Das passiert einfach durch das Herunterdrücken. Es sind 2 Spektren, die sich gegenseitig bedingen und in Spannung setzen. Das geht nur dadurch, indem man nicht „wild” herumkorrigiert, sondern quasi „natürlich” die Knotenpunkte benutzt, um die „feste” Position zu finden.

MB: Ja, da stellt sich eben die Frage, gerade weil wir uns ja in Tonbereichen aufhalten von einem 1/6-Ton oder gar 1/12-Ton z. B., da werden wir vielleicht später nochmals darüber sprechen, oder die Feinabweichungen der Obertöne von der temperierten Skala, … es stellt sich die Frage: Soll jetzt dieses „fis2″ grifftechnisch einfach heruntergedrückt werden oder soll jetzt die festgegriffene Tonhöhe erklingen, die, ja, … die erklingen würde, wenn man … anders formuliert: Soll es exakt die Stelle sein, wo der Knotenpunkt des 10. Partialtons ist?

CJW: Das wäre ideal. Ja, wenn man da herunterdrückt ist der musikalische Sinn, den ich versucht habe zu konstruieren, am besten getroffen.

MB: Das habe ich mir auch so geda …

CJW: D. h., daß man den Finger nicht schräg drückt.

MB: Aber, es ist ja so, wenn ich einen Knotenpunkt auf der Saite greife, um ein Flageolett zu erzeugen, dann „sitzt” der ja idealerweise mittig, d. h. also, der Finger hat ja eine gewisse Dicke [lacht] und der Knotenpunkt ist eigentlich unendlich „klein”, wenn man so will, und so ragt der Finger auf beiden Seiten über diesen Knotenpunkt hinaus und dämpft im Grunde genommen ein wenig.

Knotenpunkt

Ideal wäre natürlich den Daumennagel z. B. zu benutzen.

Daumennagel

Aber, wenn ich jetzt den Finger herunterdrücke, dann entstehen gewissermaßen 2 Effekte. Einmal: Festgegriffene Töne muß man „tiefer” greifen, weil die Dicke des Fingers darf nicht mehr über den Knotenpunkt hinweg aufliegen, also nach „oben”. Ich muß den Finger demzufolge zurücknehmen [“tiefer” aufsetzen].

Fingerbreite

Und der 2. Grund ist der, gerade bei der C-Saite, daß die Spannung der Saite erhöht wird durch das Festgreifen, so daß ich, wenn ich einfach nur heruntergreife, ich doch einen spürbar höheren Ton erhalte …

Saitenabstand

Anmerkung:

Unterlegt man bei der Position G2 die Saite mit einer 5 mm starken Unterlage und bringt ab diesem Punkt schwingende Saite mit der leeren G-Saite in einen schwebungsfreien Einklang, entfernt man dann die Unterlage und drückt mit ihr an derselben Position die Saite gegen das Griffbrett, so entsteht eine Schwebung. Die Frequenz ist erkennbar höher als vorher.

CJW: Ja, ja …

MB: Ist ja klar.

CJW: Das ist beim Cello schon deutlich und bei der Geige noch stärker der Fall, weil die Finger dazu noch schräg herunterdrücken und die Tonhöhe nach „oben” ziehen, durch die Fingerhaltung. Ja, das ist vielleicht ein kleiner Unterschied, aber es wäre daran zu arbeiten, die Hand natürlich automatisch jeweils ein wenig nach unten zu verrücken.

MB: Mit anderen Worten, du hast eigentlich den Ton klingend notiert.

CJW: Jaha, wenn du so genau bist, kann man das so sagen. Also der beste Sinn wäre, wenn zwischen dem Flageolett und dem heruntergedrückten Ton eine möglichst perfekte Obertonrelation besteht.

MB: Dann wäre mein Vorschlag, vielleicht diesen Sachverhalt im Vorwort zu erwähnen, weil es mir doch einige Gedanken verursacht hat. Aber ich dachte mir schon, daß du idealerweise meinst, das sei jetzt die Grundfrequenz, wo sich dieser Ort des Knotenpunkts befindet. Und wenn man von diesen Unwägbarkeiten, die sonst noch da sind, die aber sehr gravierend sind, in einem mikrotonalen Zusammenhang, einmal absieht. Im Grunde genommen muß man die Position des Fingers korrigieren, also merklich korrigieren, gerade auf der C-Saite.

Es ist so: Ich habe z. B. an meinem Cello 3 Bünde eingezeichnet, als Markierung eingezeichnet, einmal beim 3., dann beim 4. und 5. Partialton, weil ich sehr viele Mehrklänge im höheren Bereich am Cello spiele. Da fällt mir natürlich auf – das weiß man sonst nicht, wenn man diese Markierungen nicht hat -, daß man auf der C-Saite da „oben” eigentlich schon fast einen Halbton tiefer greift, um die gewünschten Tonhöhen zu bekommen, weil die C-Saite einen größeren Abstand zum Griffbrett hat.

CJW: Vor allen Dingen in der oberen Hälfte. Unten ist es, glaube ich, gar nicht so viel, weil die Saite näher am Griffbrett ist.

MB: Das ist richtig. Aber es ist trotzdem erstaunlich viel. Im üblichen Kontext fällt das auch nicht weiter auf, ich würde sagen, niemand würde das so wissen. Aber wenn man diese Bünde hat, dann ist dies optisch schon sehr auffallend.

OK, jetzt habe ich überlegt, was sind das denn für feine Unterschiede? Z. B. das erhöhte „fis2″, der Knotenpunkt vom 10. Partialton, und dann das erniedrigte „fis2″, der Knotenpunkt vom 7. Partialton, und … das temperierte „fis2″. Das sind ja Unterschiede im 1-Hertz-Bereich, ungefähr.

Saitenlänge

CJW: Also in Cent könnte ich es schnell sagen, das höhere „fis2″ muß ungefähr plus 17 sein.,

MB: 17 Cent?

CJW: Ja.

MB: Das ist weniger als ein pythagoräisches Komma?

CJW: Ja.

MB: Hm … das ist in diesem Tonhöhenbereich … hm … ja, da kann man sich streiten, aber an der Hörschwelle, würde ich sagen, wenn nicht schon darüber?

CJW: Ja. Ich denke man kann’s hören, einerseits. Andererseits ist es vor allen Dingen in dem Moment, wo die Möglichkeit besteht, da Töne abzuleiten, also konkret die Flageoletts z. B., da ergeben sich stimmige harmonische Kontexte, die sich deutlich unterscheiden. Also das würde ich schon sagen, daß es da große Unterschiede gibt, z. B. zwischen dem erhöhten „fis2″ mit dem „e5″ zusammen und dem erniedrigten „fis2″ mit dem „b4″ zusammen. Wenn man diese beiden Konstellationen gegeneinander hört, dann ist es ganz entscheidend, daß die Position des „fis” sehr unterschiedlich ist. Die eine ist über dem temperierten, die andere darunter.

MB: Ja, das ist ganz sicher so. Das hat damit zu tun, ob etwas „rein” klingt oder eine Reibung erzeugt. Also, wenn ich z. B. in einem D7-Akkord die Septim eben mehr in Richtung des 7. Partialtons spiele, dann klingt die auch völlig anders.

CJW: Das ist mehr als das, es ist auch so, daß es da verschiedene Tonalitäten gibt, die dann miteinander in Konkurrenz stehen.

MB: Ja, insbesondere, nehme ich an, wenn du dann noch auf andere Saiten gehst. Wir sind im Moment …

CJW: Ja, das wird dann transponiert.

*

MB: In der 2. Zeile kommt dann schon der sogenannte „split tone” … da … hm … weiß ich nicht so genau. Also, ich habe das ausprobiert und bei mir kommt da merkwürdigerweise kein „d” zum Erklingen sondern ein „es”?

CJW: Ja, das ist vielleicht ein bischen, wie du sagst mit dem Finger, mit der Dicke des Fingers, da muß man mit dem Bogen schauen, der hat ja viele Haare, der muß „tiefer” gesetzt werden, als man eigentlich denkt.

MB: Hm, es ist so, ich habe mich damals, als ich mich mit Obertönen ausführlichst auseinandergesetzt habe, zur Zeit der Entstehung meines Buchs „Fingerboards & Overtones ” auch mit sogenannten „Untertönen” auseinandergesetzt, Frequenzen also, die entstehen, wenn man z. B. eine leere Saite mit viel Bogendruck an einer gewissen Stelle, noch in Stegnähe, anstreicht. Da ist mir immer aufgefallen, daß ich nicht eine Oktave tiefer bekomme, also auf der C-Saite nicht ein tieferes „c1″ sondern eine große Septim.

CJW: Ja, so ungefähr, ja.

MB: Und dieser Effekt, ich weiß nicht, ob ich da so richtig liege, aber dieser Effekt scheint mir bei diesen „split tones” auch zu kommen, daß ich keine Oktav erhalte sondern ich bekomme ein „es2″. Es bleibt noch eine Frage: Natürlich kann ich das „fis2″ irgendwie zum Klingen bekommen. Aber, wenn ich nun an der Stelle, wo das kleine „d3″ ist, streiche, dann, also theoretisch, dürfte dieser Punkt, wie beim Oberton auch, nicht ausgelenkt werden. Dieser Punkt dürfte nicht in Schwingung geraten, es müßte eigentlich ein Fixpunkt sein, der in Ruhe ist, – wenn ein „d3″ klingen soll.

CJW: Ja. Aber es gibt doch die Technik, die kennst du ja bestimmt, bei Spahlinger schon, und was wir manchmal „nageln” genannt haben, wo man viel näher am Bogen greift, wo man wirklich den Bogen quasi als „Steg” benutzt. Also, daß man nur die Saite schwingen läßt zwischen dem Bogenhaar und dem Steg. Man braucht nur viel Kraft in der anderen Hand. Und da ist nicht ein Durchschwingen der ganzen Saite sondern nur ein Schwingen zwischen dem Bogenhaar und dem Steg. Und bei dem „split tone” würde ich denken, daß es so eine Art Mixtur ist von diesem Schwingen [Bogenhaar-Steg] und dem Durchschwingen [Finger-Steg]. Also wie bei der Posaune, die sich nicht richtig entscheiden kann, – von Fall zu Fall.

MB: Ja, ich hab’ damals [Anfang der 90er Jahre] mit diesen Experimenten aufgehört aus einem Grund: Ich konnte das Phänomen nicht wirklich erklären und ich konnte es auch nicht mit Sicherheit hervorrufen, also z. B. eine bestimmte Frequenz. Das passiert ja sehr leicht, daß man da zusätzlich noch andere Frequenzen hört, je weiter man … Also, ich rede jetzt von einer leeren Saite, die ich versuche, mit dieser Technik anzuspielen. Je weiter ich in Richtung Saitenmitte mit dem Bogen gerate, desto tiefer werden die Töne [“Untertöne”]. Das geht über die große Septim weiter nach „unten”, ich weiß nicht mehr, was das noch war, vielleicht eine große Dezim, egal, und irgendwann hört das natürlich auf, weil sich das dann nicht mehr praktisch ausführen läßt, weil die Saite nicht mehr den nötigen Widerstand dem Bogen entgegenbringt.

Bei diesem „split tone” ist ja auch ganz wichtig, das habe ich beim Experimentieren herausgefunden, daß der gegriffene Ton, das schreibst du ja auch, „fixiert” wird und keinesfalls auf das Griffbrett, also gegen das Griffbrett gedrückt wird, nicht wahr?

CJW: Ja. Ich stell’s mir auch ziemlich schwierig vor, das mit einer leeren Saite zu machen. Weil durch das Experimentieren – und ich finde diese Technik im übrigen nicht mehr besonders problematisch – wurde für mich wichtig, mit der linken Hand eine Gegenkraft zum Bogen aufzubauen, daß die Saite fast angehoben wird, das muß man halt eben ausbalancieren.

Die beiden „split tones”, die ich benutze, es sind glaube ich 2 auf dieser ersten Seite, sind, denke ich, in dem Bereich, wo sie identifizierbar und sicher sind. Ich hatte schon die gleichen Schwierigkeiten, die du jetzt ansprichst, bei noch größeren Intervallen, daß unvorhersehbar war, was dann passiert. Aber ich dachte, zumindest diese beiden da, die kleine Sexte und die große Terz, die lassen sich noch einigermaßen sicher produzieren.

MB: Vielleicht muß ich da einfach nocheinmal herangehen und muß vielleicht …

CJW: Hast du das Video gesehen, von der Hochschulseite [InterNet-Seite des Domnick-Wettbewerbs]?

MB: Nein.

CJW: Ich habe Beispielvideos da hochgeladen.

MB: Ach so.

CJW: Die Leute lernen oft von Erklärungen gar nicht, aber wenn man es Ihnen einmal vormacht und sie machen es dann nach, dann geht es leichter. Ich denke, das ist fast eine einfacherere Technik, als die, die so stark von der guten Bogenposition abhängt.

MB: Vielleicht geben deine Videos eine nähere Erklärung für das Phänomen. Ich halte das für einen ziemlich komplexen Klang, den man schwer in den Griff kriegt. Diese Technik, die Saite sozusagen zu „erdrücken”, die gibt es auch … bei Xenakis, „Charisma ” [für Klarinette und Cello] fängt so an.

CJW: Ja, ja, aber das meine ich jetzt gar nicht.

MB: Also es soll erklingen dieses „fis2″ und dieses „d3″?

CJW: Ja, das ist ein Konglomerat von 2 Klängen, seltsam, klangfarblich nicht ganz eindeutig. Es sind verschiedene Faktoren, die sich gegenseitig bedingen.

MB: Es ist wahrscheinlich so ein Komplex, wie wenn man zwischen 2 Obertönen greift, nehme ich an?

CJW: Ja, nur der Klangcharakter ist ganz anders.

MB: Entstehen dann auch solche Mixturen, solche Differenztöne vielleicht?

CJW: Ja, so ein wenig, aber das ist nicht im Vordergrund. Und es braucht auch keine Obertonrelation zu haben.

*

MB: Jetzt gehen wir mal zu dem nächsten Klang, das ist … 10., 11., 8. und 7. Partialton …

CJW T10f

Notenbeispiel Takt 10f

Du hast das jetzt wieder auch in Griffnotation notiert, ist das wichtig?

CJW: Was da erklingt?

MB: Naja, die Obertöne sollten schon erklingen, aber ich meine, deine Griffnotation?

CJW: Ja, wie soll man das denn notieren? Irgendwie ist es ja … also, wenn man den Ganzton eng um das „g2″ herum greift, und dabei mit dem Bogen genug Nähe zum Steg hat, wenn alle diese Faktoren stimmen, dann schafft man den 10. und 11. Partialton zu haben, und wenn man den etwas weiter greift und etwas entspannter streicht, dann hat man den 7. und 8. Teilton. Das ist ein Grundmodell in diesem Stück.

Das sind, ich weiß nicht, wieviele Millimeter das in der linken Hand sind, vielleicht 2 oder 3 Millimeter Unterschied, die Griffe liegen sehr nahe beieinander, aber der Klang ist sehr unterschiedlich. Ja, wie würdest du das denn notieren? Ich habe einfach versucht, den Hinweis zu geben, wo die Stellen idealerweise zu finden wären.

MB: Ich würde das ganz anders spielen.

CJW: Spielen oder schreiben?

MB: Spielen und schreiben. Ich habe normalerweise, bei meinen Werken oder auch bei dem Stück „ONE8” von John Cage, bei den natürlichen Obertönen keine Griffnotation. Aus dem Grund: Es gibt meistens viele Möglichkeiten, gerade beim 10. oder 11. Partialton, den Oberton zu greifen, auf die ganze Saitenlänge hinweg.

Und in deinem Stück würde ich … und das ist jetzt ein weiterer Aspekt, du hast ja Rhythmen notiert, was voraussetzt, daß diese Tonwechsel genau in diesem Rhythmus geschehen sollen, und da würde ich mir Griffe auswählen, wo ich eigentlich sicher sein kann, daß die Obertöne ansprechen, und zwar schnell. Und wenn ich das so sehe: Fünftole, Triole und Tempo 60, das ist doch von dir so gewollt?

CJW: Ja. Doch, doch. Das ist so gewollt. Ich versteh’ das zwar sehr gut, daß man als Cellist oft viel mehr weiß, als die Komponisten, und daß man manchmal gute Vereinfachungen bei gleichem Ergebnis erzielen kann. Z. B. grifftechnische Vereinfachungen, daß man nicht „wie wild springen” muß sondern die Griffe nahe beieinander liegend kennt, die Komponisten eben nicht kennen, und das soll man ruhig anwenden.

Aber bei meinem Stück ist es so, daß die Idee im Kern ist, diese bestimmten Griffpositionen, diese verschiedenen Griffweisen in Verbindung zu bringen, so daß es logischerweise nicht sinnvoll ist, das zu ändern

MB: Ja, ich sehe, natürlich klar, du schreibst ja „Finger langsam festdrücken”, – da haben wir wiederum die Frage, die wir schon ausdiskutiert haben: „welcher Ort ist da genau festzudrücken?” Mir ist schon klar, daß die Griffnotation für die Obertöne damit zu tun haben, daß da auch die Orte sein sollen für die festgegriffenen Töne. Trotzdem könnte ich mir – aber ich meine, da kann man ja gespannt sein, was die Wettbewerbsteilnehmer daraus machen – trotzdem könnte man gerade für die Fünftole und die erste Triole sich einen anderen Griff ausdenken, damit das wirklich perfekt kommt, um dann anschließend zu wechseln in deine Notation, in der 3. Lage ungefähr, um das ausführen zu können, nämlich den Wechsel vom Flageolett zum festgegriffenen Ton.

CJW: Das ist theoretisch denkbar. Ich selbst fände das viel schwieriger, den Wechsel zu schaffen, was logistisch ein Problem ist bei einer flüssigen Figur, das würde ich jetzt persönlich denken. Na klar, auch ich bin gespannt, was die Wettbewerbsteilnehmer machen werden. Ich habe selbst das testweise ein bischen durchgeübt und ich habe die eine oder andere Stelle auch nicht in die Partitur geschrieben, weil ich dann gemerkt habe, das widerstrebt einfach der Sicherheit. Ich finde jetzt schon, daß es in puncto Ansprache und von den Figuren her zumindest weit im Bereich des Machbaren ist. Eine richtige Sicherheit gibt es bei solchen Sachen nicht. Das ist klar. Aber man muß immer Kompromisse machen und das war der Kompromisslevel, den ich für nötig hielt.

MB: Du bist natürlich mit diesen Sachen sehr vertraut. Für jemand, der jetzt … also 10. Partialton, 11. Partialton auf der C-Saite [lacht] … so etwas noch nicht gespielt hat, wird sich damit schwerer tun.

CJW: Aber diese Generation, so wie man sie jetzt erlebt, ist dermaßen gut … die haben dann etwas … Das ist ja auch ein Stück … erstens versuche ich natürlich ein Stück zu schreiben, das schön ist, zweites, was eine Vergleichbarkeit ergibt zwischen den Leuten, daß man daran sieht, was sie machen und drittens aber auch, damit die etwas lernen. Die werden die eine oder andere technische Feinheit in Bezug auf das Flageolettspiel notwendigerweise lernen müssen. Also z. B., daß es nicht unbedingt hauptsächlich von der linken Hand abhängt, daß der Oberton richtig erklingt sondern von einer kontrollierten Bogenführung.

MB: Genau.

CJW: Das kann den Leuten nicht schaden.

MB: Genau das, was du gerade sagst, ist existentiell wichtig, daß der Bogen die richtige Kontaktstelle für den jeweiligen Oberton hat. Das ist eine recht komplizierte Angelegenheit.

Das erinnert mich an ein Stück, das Walter Zimmermann für Cello und Klavier geschrieben hat [“Geduld und Gelegenheit “, 1987-89]. In dem Satz „Tyche ” hat er vierstimmige Akkorde notiert, deren Flageolettöne nicht über den 6. Partialton hinausgehen, ja, das ist noch relativ einfach. Aber dadurch, daß die linke Hand zwischen den festgegriffenen Tönen und Flageolettönen wechselt, im Akkord, stellt er sich vor, daß dieser Wechsel unkontrolliert geschieht. Also „Tyche ” heißt Schicksal, Fügung. Er wollte eben, daß dieses Kippen zum Oberton und wieder zurück zum festgegriffenen Ton, im Akkord, fast nicht durch den Cellist kontrollierbar ist.

Das ist, wenn man nur bis zum 6. Partialton geht, noch relativ gut, wie soll ich sagen, „in den Griff zu kriegen” was nicht in seinem Sinne war [lacht]. Aber wenn man jetzt einen solchen Wechsel zwischen dem 11. und 10. Partialton – gut, das sind benachbarte Obertöne – aber dann gleich einen Wechsel zum 7. und 8. Partialton bewerkstelligen soll, das, hm, das sind schwierige Sachen. Insbesondere auch deswegen, weil – also, wenn man die Töne fest greifen würde, dann wäre ein Intonationsmangel von diesen Tonhöhen nicht so leicht feststellbar -, aber wenn man bei diesen hohen Obertönen minimal daneben greift, dann hat man sofort eine völlig andere Frequenz. Und das bringt einen zum „Schwitzen” [lacht].

CJW: Man kann’s auch positiv sehen: Dann hört man sofort, daß da etwas nicht stimmt und weiß, daß man korrigieren muß.

MB: Natürlich.

CJW: Also, nicht korrigieren im Verlauf des Konzerts, dazu ist es vielleicht etwas zu spät, aber man lernt über feine Unterschiede so recht deutlich.

MB: Also bei diesem Takt würde ich mich trotzdem „bewaffnen” mit einer anderen Griffnotation, die eben diesen Wechsel zwischen dem 10., 11. und 8., 7. Partialton mit einer größeren Sicherheit versieht, als wie es jetzt notiert ist. Hm … ich möchte jetzt nicht sagen, wie ich das meine, weil das Stück ja im Domnick-Wettbewerb ist und ich möchte deshalb jetzt nicht einen Tipp geben, aber vielleicht ist ja der eine oder andere Cellist, wie soll ich sagen, clever genug, sich eine Sicherheit zu verschaffen, für solche Stellen – was durchaus möglich ist. Das würde dich ja nicht stören, weil du kriegst ja …

CJW: Ich bin da neugierig. Ich hab’ auch nichts gegen kreative Lösungen, vor allen Dingen auch, wenn man einen anderen Text spielt, aber das gleiche Ergebnis damit absichert. Das finde ich grundsätzlich gut bei einem Musiker, weil es zeigt auch Intelligenz … aber ich persönlich würde denken [lacht], daß man genau so am besten greift, wie es da steht, also auch am sichersten … aber, das wird man dann sehen.

MB: Es ist auch merkwürdig: Ich habe die Feststellung gemacht, wenn man sehr viel mit Obertönen zu tun hat, daß man tatsächlich eine gewisse Sicherheit für diese Stellen auf dem Griffbrett bekommt, die zwischen den Tönen, den vertrauten temperierten Tonhöhen liegen. Und daß man auch ein gewisses Gefühl dafür entwickelt, wie fest man greifen muß und wie der Bogen zu streichen hat. Mit anderen Worten, ich halte das durchaus für möglich, daß man diese Griffnotation von dir realisieren kann. Es ist nur halt oft so, im Konzert ist man vielleicht etwas nervös und die Akustik ist ungewohnt, das kommt ja erschwerend bei diesen Feinheiten hinzu … und dann weiß man natürlich, als Solist, daß man lieber, ja, „auf Nummer sicher geht” und diese sonstigen Unwägbarkeiten, die im Konzert oder im Wettbewerbsablauf da sind, daß diese die Sicherheit in der Hervorbringung dieser Obertöne nicht erschüttern sollten. Man braucht ja nur ein bischen zu zittern und schon ist der Oberton weg.

*

Ich hab’ zwar auch in deinem Stück weitergeschaut … es ist immer bei mir das Problem gewesen, z. B. auch ganz unten auf der 1. Seite das „d5″, da hast du … 9. Partialton? … ja, das ist der 9. Partialton, richtig, aber soll nicht als Oberton gespielt werden oder doch? Doch.

CJW: Ja, da greift man über den Bogen rüber, das ist eine andere Mehrklangtechnik, der Finger ist aber an der gewohnten Stelle [dem Knotenpunkt des 9. Partialtons], man kann sich vielleicht am Griffbrettende orientieren, also es ist gut auffindbar, nur ist der Bogen jetzt „unterhalb” des Fingers, auf der „falschen” Seite geführt, und man hört zuerst den Ton, dann drückt man etwas mehr.

MB: Und da möchtest du was klingen haben?

CJW: So ein Konglomerat von verschiedenen Tönen, das ähnelt einem überblasenen Baßklarinettenklang.

MB: Also bei mir, ich hab’ mir notiert, es erklingt ein tiefes „e2″.

CJW: Also praktisch der nächste Teilton darüber?

MB: Nein, ein tiefes „e2″, das „e” im Baß, das große „e”.

CJW: Ja, … ja, dann hast du wahrscheinlich ziemlich stark [mit dem Bogen] gedrückt.

MB: Aha.

CJW: Weil die Strecke zwischen dem Bogen und dem Sattel könnte vielleicht ein „e2″ ergeben.

MB: Das habe ich noch nicht ausgerechnet, das könnte der Fall sein.

CJW: Das könnte schon hinkommen.

MB: Es ist auf jeden Fall aber kein „d2″.

CJW: Ja, aber deswegen habe ich von diesem Klang auch ein Beispiel ins InterNet gestellt.

MB: Ah ja, gut. Und auch bei dem „split tone” davor, in der untersten Zeile, erklingt bei mir, neben dem „d”, wieder ein „g”, also kein „fis”.

CJW: Ein Kontra-G [g1] oder?

MB: Nein, diesmal die leere G-Saite [g2].

CJW: In einem solchen Stück gibt es immer Sachen, die sind nach der Lehre richtig, aber in der Notation gibt man einen Hinweis, was erklingen soll, wie bei jedem anderen Stück ja auch, und man korrigiert viel nach dem Gehör, weil man verstanden hat, was gemeint ist, und in diesem Fall muß man mit dem Bogen einfach das „fis” suchen, weil man sich wundert, wie „tief” [Kontaktstelle des Bogens auf der Saite] man diesen zu setzen hat, aber das liegt daran, daß der Bogenbezug breit ist.

Also meine Strategie wäre, ein ganz klares „d” zu haben, also in der linken Hand, und dann genau zu wissen, auf welcher Position der Bogen zu sitzen hat, damit das „fis” klingt.

MB: Damit man eine Terz erhält. Ja, da muß man mit dem Bogen einfach „tiefer” gehen.

Ich glaube übrigens, ich habe da etwas falsches gesagt: In der 2. Zeile, bei dem 1. „split tone”: es war nicht das tiefe „es2″ sondern das „es3″, ein Halbton darüber.

CJW: Genau, genau. Das ist dann quasi das „d”, aber ein bischen zu „hoch”. Vielleicht wird der Ton sowieso etwas zu „hoch” bei dieser Technik aber zusätzlich ist es noch so, daß man die linke Hand eigentlich schon „in den Bogen setzen” müßte.

MB: Und wenn wir jetzt weiter zur Seite 2 schauen, da kommen jetzt schnellere Passagen, und da würde ich jetzt auch wieder dazu tendieren, z. B. die letzten 2 Zeilen, andere Griffe für die Flageolette zu wählen.

CJW: Da würde es vielleicht gehen.

MB: Weil die Passage nicht mit festgegriffenen Tönen endet.

CJW: Genau.

*

MB: Nun, wie kann ich das verstehen, dieser Tonraum des Stücks, den du entwirfst: Gibt es da zentrale Töne, die quasi umspielt werden, die sozusagen eine eigene „Tonalität” in Anführungsstrichen erzeugen?

CJW: Ja, am Anfang auf jeden Fall, alles das, was um die Tonhöhe „g2″ gruppiert ist, so wird das Stück ja auch eröffnet, das „g2″ mit seinen Nachbartönen „fis2″ und „as2″. Dann die verschiedenen Bedeutungen von „fis2″ und „as2″ auf der C-Saite. Und später ist es dann so, daß z. B. der 10. und 11. Teilton der C-Saite mit dem „e5″ und dem erhöhten „f5″ in direkter Nachbarschaft zu dem 7. und 8. Teilton der G-Saite, mit dem „f5″ und dem „g5″ stehen. Das ist fast schon so wie eine „enharmonische Verwechslung”, eine Quinte höher und das kann man wieder neu aufbauen, und das wird dann wieder nach oben hin „verwechselt” bis man dann auf der D-Saite gelandet ist, und dann irgendwann sogar auf der A-Saite.

Also es sind kleinste Abstände zwischen den einzelnen Phänomenen aber mit relativ großer Konsequenz.

MB: Sind diese Tonhöhen bei den speziellen Techniken wie „split tone” oder Mehrklang etc. von der Obertonreihe bedingt?

CJW: Also bei den „split tones” nicht. Das ist dann eher so, daß das Stück abtaucht in verschiedene Farbwelten. Auch bei dem Mehrklang, der zwar wie eine Baßklarinette klingt, das hängt zwar schon mit den Obertönen zusammen, aber das ist nicht im Vordergrund, eher die Klangfarbe.

MB: Ich finde das alles ja faszinierend. Wir haben ja schon darüber gesprochen über die, ich würde mal sagen, „Unschärfe” … wir halten uns ja im Moment in einem Bereich von Kleinstintervallen auf, ein 1/12-Ton z. B. oder einem 1/6-Ton.

Ich hatte das einmal mit John Cage diskutiert, das ist in diesem Buch „MUSICAGE ” [Wesleyan University Press, Hanover, USA 1996] veröffentlicht worden. Da haben wir beispielsweise über Morton Feldmans Notation gesprochen mit diesen Doppelkreuzen und Doppel-bs, die völlig offen läßt, wie sie konkret zu verstehen ist. Und John Cage hatte damals [1992] eine Notation, die den Halbton in 7 Teile unterteilt, also wenn man so will, ein 1/14-Ton.

Und ich hatte ihm damals gesagt, ja, also meine Erfahrung mit der Feldmanschen Notation, da bin ich zu dem Schluß gekommen, daß das pythagoräische Komma ungefähr ein Maß ist, wo ich halbwegs noch sagen kann, dieser Tonhöhenunterschied ist noch zu „managen”. Und dann meinte er, ja, offensichtlich ist seine Notation mit einem 1/14-Ton, also kleiner als das pythagoräische Komma, jenseits davon. Und es wäre eigentlich so, als ob ein Instrumentalist von einem Ort, der für ihn unbekannt ist, zu einem nächsten unbekannten Ort geht.

Und die Frage ist, ja, – damals nannte er das „the challenge”-, wie benimmt sich ein Instrumentalist in einer solchen Situation? Weil, in der Praxis ist es ja oft so, das ist auch meine Beobachtung: Es gibt mikrotonale Stücke, die auf dem Papier stehen, aber das wird nie realisiert, ja? Da muß man schon einen besonderen Versuch machen, sich den Anforderungen anzunähern. Ich sehe in deinem Stück diesen Versuch ziemlich klar, wie du dir das vorstellst.

Jetzt, weiß ich nicht, sollen wir mal sagen, wir unterhalten uns nochmals, nachdem das Stück aufgeführt wurde?

CJW: Das können wir gerne machen. Vielleicht kann ich nochmals kurz bestätigen, das, was du sagst. Ich finde erstens, die Beschreibung von John Cage ist sehr schön. Und ich stelle mir vor, bei den 1/14-Tönen, er hat ja wenig Anhaltspunkte, zu verifizieren und um sicher zu sein, daß man die Position hat. Weil, das ist wirklich so, wie „frei in die Luft gesetzt”. Das ist ein sehr schönes Bild.

Die Strategie bei mir ist das Gegenteil, die 1/12-Töne sind zwar fast so klein wie die 1/14-Töne, aber sie sind schon ziemlich geeignet, weil sie bestimmte identifizierbare, reine Intervalle ganz gut abbilden, also eine reine große Terz ist ungefähr ein 1/12-Ton tiefer als die temperierte, und eine reine Septim ist ca. 2/12-Töne tiefer als die temperierte. Gleichzeitig kann man über die Knotenpunkte die Flageolettöne identifizieren und die festgegriffenen Töne danach ausrichten. D. h. es ist so angelegt, daß es in den Bereich der Wahrnehmbarkeit kommt.

Ich stimme schon überein, daß vor allen Dingen auf den tiefen Saiten, da hört man ja nicht so gut, ist das im Grenzbereich. Aber meine Strategie ist es, so weit es geht, das wahrnehmbar zu machen.

MB: Wichtig scheint mir zu sein, daß man den Oberton mit diesem, sagen wir – es ist ja kein Grundton – , mit diesem Greifton, daß man da eine Relation, eine Beziehung aufbaut.

CJW: Das ist wieder eine Grundtonrelation. Es muß immer eine Grundtonrelation sein zwischen dem Oberton und dem neuen Griffton.

MB: Ja, aber es ist dann nicht mehr der „10. Partialton”.

CJW: Das ist dann so etwas wie 1/7 geworden.

7-10 Saitenlänge

MB: Das ist wie bei den künstlichen Flageolettönen, da kann man die gleiche Tonhöhe [erklingender Flageoletton] unterschiedlich greifen und hat dann jeweils einen anderen Grundton. Ja, das bietet eine ganz starke Orientierung, es ist aber … vom „Klang” her zu verstehen, nicht vom „Griff” her.

CJW: Ja.

MB: Der Griff wird es nicht sein, weil er zu ungenau ist, der stimmt auch theoretisch nicht, aber vom Klang, daß man z. B. dieses erhöhte „fis2″ zusammen mit dem erniedrigten „e5″ hört.

CJW: Genau.


 

… und die Aufführungen am 24.01.2014 im Cello-Wettbewerb *)

Obertöne, Stimmungssysteme, Differenztöne, mikrotonale Unterschiede etc. sind von jeher zentrale Themen der Musik gewesen. Dabei spielt die „menschliche Komponente”, das Hörbare und das Machbare die letzendlich entscheidende Rolle. Die Analyse der „Sarabande in Es-Dur” von Johann Sebastian Bach im weblog „the bach update” zeigt auf, wie bereits bei J. S. Bach Obertonrelationen, eingebettet in harmonische Bezüge, zu Bedeutungsträgern werden, die hart an die Grenze des Hörbaren stoßen.

CJW Split Tones Seite 1 001

 

Das Werk „Split Tones” von Caspar Johannes Walter wurde als Pflichtstück in der Finalrunde des Cello-Wettbewerbs dreimal gespielt. Die spezifischen Anforderungen an den Cellisten und die Hörer lassen sich in 3 Bereiche gliedern:

Partialtöne

Die Obertöne bis zum 12. Partialton setzen zwar ein spezialisiertes grifftechnisches Können voraus, sie sind aber durchaus zu meistern, weil sie sich sehr gut gehörsmäßig kontrollieren lassen. Wie im Telefonat vom November 2013 angesprochen, ist die in der Partitur vorgegebene Griffnotation im unteren Saitendrittel sehr riskant. Hinzu kommt noch die rhythmische Festlegung, die eine sofortige Ansprache der hohen Flageolettöne (Partialtöne) voraussetzt. Um diese Vorgaben sicher zu bewältigen, ist allerdings eine andere, zuverlässigere Griffnotation notwendig. Die beiden ersten Cellisten hielten sich jedoch sklavisch an die Griffnotation der Partitur. Der dritte Cellist versuchte an einigen wenigen Stellen andere Griffweisen, meist am oberen Saitenende in Stegnähe, die aber fast genauso riskant sind.

CJW T3-5
In den Takten 3-7 sollten der 10., 8. und 7. Partialton auf der C-Saite (IV/10, IV/8, IV/7) erklingen.

 

Beispiel 1

Tonaufnahme der 3 Finalisten, Takte 3-7

Cellist N° 1 scheiterte beim 2. Flageoletton, denn zuerst sprach der 9. Partialton an.

Cellist N° 2 hatte Probleme mit dem 1. Flageoletton, denn zuerst sprach der 6. Partialton an. Der 3. Flageoletton war gar nicht zu hören.

Cellist N° 3 hatte beim 1. Flageoletton ebenfalls Probleme, denn nach dem korrekten 10. Partialton kippte die Tonhöhe auf den 7. Partialton.

 

CJW T10f

Notenbeispiel Takte 10f
Zunächst sollte eine Quintole mit dem 10. und 11. Partialton, dann Triolen mit dem 8. und 7. Partialton erklingen.

Klangbeispiel Takte 10f

 

Beispiel 2

Tonaufnahme der 3 Finalisten, Takte 10f

Cellist N° 1 realisierte nach dem zu schwachen pizzicato nur den 8. und 7. Partialton, der 10. und 11. Partialton erklangen gar nicht.

Cellist N° 2 konnte die Quintole fast perfekt realisieren, nur die 2. Tonhöhe war nicht der 11. sondern der 8. Partialton. Danach erklang in den Triolen aber ausschließlich der 8. Partialton, der 7. Partialton blieb weg. Auch die fest gegriffenen Töne stimmten abschließend ihrer Anzahl nach nicht.

Cellist N° 3 realisierte die Obertöne der Quintole, nicht aber deren Rhythmus. Danach versagten in den Triolen zweimal die entsprechenden Obertöne.

Mikrotonalität

Fehlgeschlagene Partialtöne sind unüberhörbar, mikrotonale Schwankungen im 1/12 Tonbereich, noch auf der C-Saite bei ca. 93 Hz, sind schlicht unhörbar. Um überhaupt irgendwelche mikrotonalen Unterschiede hörbar zu machen, ist „grobe” Übertreibung vonnöten, d. h. Schwankungen von ca. 1/4-Ton.

In dem Werk “Split Tones” wird versucht, diese Aufgabe rein cellotechnisch zu lösen, indem z. B. exakt am 3. Knotenpunkt des 10. Partialtons die Saite einfach herunter gedrückt wird. Der Versuch, die mit dem Finger berührten Knotenpunkte auf der Saite als Endpunkte der schwingenden Saitenlänge zu definieren und diese Stellen auf das Griffbrett praktisch niederzudrücken, gründet auf einem falschen Ansatz. Denn drückt man die Saite an diesem Knotenpunkt einfach nur aufs Griffbrett, so erklingt, wie im Gespräch vom November erläutert, gerade nicht die gewünschte Grundfrequenz eines, welchen auch immer, Partialtons.

Abgesehen davon, wurden die exakt richtigen Knotenpunkte bzw. die entsprechenden Flageolettöne nie mit Sicherheit getroffen, wie die Beispiele 1 und 2 zeigten, so daß sich die Überlegunbg eigentlich erübrigt, solche Stellen als Anhaltspunkte für eine mikrotonale Griffweise zu nehmen.

„Stimmige harmonische Kontexte, die sich deutlich unterscheiden” stellen sich so nicht ein. Verschiedene Tonalitäten können auch nicht, wie postuliert, demnach „in Konkurrenz” miteinander stehen.

 

CJW Split Tones  T 1-2

Notenbeispiel Takte 1 und 2

 

Beispiel 3

Tonaufnahme der 3 Finalisten, Takte 1 und 2

Cellist N° 1 realisierte in der Oberstimme ein leichtes glissando nach oben und in der Unterstimme nach unten, rhythmische Vorgaben wurden ignoriert.

Cellist N° 2 hat nur die Note as2 minimal nach oben bewegt, die Note fis2 blieb konstant.

Cellist N° 3 hat den Intonationsunterschied wesentlich größer als den notierten 1/6 Ton ausgeführt.

Mehrklänge

Bei den „Split Tones”, den „Mehrklängen” mit dem Bogen auf der „falschen” Seite des Griffingers oder dem sogenannten „Nageln” mit dem Bogen ist den resultierenden Klangphänomenen Tür und Tor geöffnet.

CJW T8 split tone
Notenbeispiel Takte 8f

Klangbeispiel Takte 8f

 

Beispiel 4

Tonaufnahme der 3 Finalisten, Takte 8f

Cellist N° 1 realisierte erkennbar andere Frequenzen als gewünscht.

Cellist N° 2 ebenfalls.

Cellist N° 3 gelang es, die Note fis2 hörbar zu machen, die Note d3 allerdings weniger. Eher erklang die Oktav fis3.

 

Der “Split Tone” in den Takten 23f ließ sich problemloser produzieren:

Klangbeispiel Takte 23f

 

Beispiel 5

Tonaufnahme der 3 Finalisten, Takte 23f

Cellist N° 1 konnte die Tonhöhe d2 deutlich, die Note fis2 nur andeutungsweise hörbar werden lassen.

Cellist N° 2 realisierte diesmal sogar beide Tonhöhen.

Cellist N° 3 gelang der Versuch ähnlich wie dem ersten Cellisten.

Als letztes Beispiel ein weiterer “Mehrklang”, eine Mischung aus unbestimmten Frequenzen und Geräuschen, wobei der Bogen “hinter” den, einen Knotenpunkt eines Partialtons auf der Saite greifenden, Finger gesetzt wird. Offensichtlich ist das, was in diesem Mehrklang zusammen erklingt, nicht genauer definiert. Die Tonhöhe zu Beginn sollte wohl ein d5 sein, also der 9. Partialton der C-Saite.

 

Beispiel 6

Tonaufnahme der 3 Finalisten, Takt 27f

Alle Cellisten erzeugten zunächst den 8. Partialton, erst danach sprach der 9. Partialton an.

 Michael Bach

 


 

*)

Cello-Wettbewerb für Neue Musik und Verleihung des Domnick-Cello-Preises

Saatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart

20. – 25. Januar 2014

 

Die Finalisten:

Charles-Antoine Duflot
Magdalena Bojanowicz
David Eggert

 

 

25 Jahre BACH.Bogen

 01 BACHBogen 25

Präsentation mit Michael Bach im KlangRaum Stuttgart am 01. Dezember 2013

Mit freundlicher Unterstützung der Landeshauptstadt Stuttgart und der Stiftungen der Landesbank Baden-Württemberg.

Mein Dank gilt insbesondere auch Dr. Ewald Liska und dem Team des KlangRaum.

 


[Michael Bach spielt die „Sarabande” in d-moll von J. S. Bach]

video

[Applaus]

 

Liebe Gratulanten!  [Publikum lacht]

Ich habe Ihnen gleich zu Beginn die „Sarabande” in d-moll von J. S. Bach vorgespielt, damit Sie einen Eindruck vom Klang des BACH.Bogens haben und wissen, worüber ich jetzt reden werde.

Ein Bonmot von George Mallory verdeutlicht den Sachverhalt auf ganz einfache Weise und bringt ihn auf den Punkt, ein Sachverhalt, der auch auf den Rundbogen zutrifft: Er antwortete vor 100 Jahren auf die Frage, warum er den Mount Everest besteigen wolle, mit: “Because it is there.” (Zu deutsch: „Weil er da ist.”)

Schließlich hat jedes Streichinstrument vier Saiten, gerade ausreichend für einen vierstimmigen Satz. Die linke Griffhand hat auch 4 bis 5 Finger, die „einsatzfähig” sind. Also warum nicht dieses Klangpotential heben? „Es ist doch da.” („It is there.”)

Dazu noch ein passendes Zitat von Edmund Hillary, der den Mount-Everest dann als Erster bestieg: „It is not the mountain we conquer, but ourselves.” (Zu deutsch: „Es ist nicht der Berg, den wir bezwingen – wir bezwingen uns selbst”.)

Also, da kann man nur sagen: hier ist uns ein vorbildlicher Künstler im „Lager” der Bergsteiger verloren gegangen  [Publikum lacht]. Wie sieht es aber im „Lager” der Künstler selbst aus, mit ihrer Motivation. Sind diese auch so getrieben von einer Neugierde und Wissbegierde? Darüber werde ich heute nicht reden, denn das wäre eine lange Geschichte.

*

Es ist merkwürdig: der Wunsch, Akkorde am Cello zu produzieren, war mir während der Ausbildung einfach „abhanden gekommen”. Ich hab’s gar nicht bemerkt. In einem Text “Musik? Musikausbildung?? ” für das Buch Marion Saxers mit dem Titel „Anfänge” (Wolke Verlag, Hofheim), worin Komponisten ihre ersten musikalischen Gehversuche schildern, meist anhand eines Instruments, habe ich darüber geschrieben.

Man muß wissen, der heute gebräuchliche Bogen sieht so aus:

[zeigt geraden Bogen]

Er ist mehr oder weniger gerade, so daß man mit ihm nur in einer Ebene streichen kann. Die 4 Saiten verlaufen aber auf einem gekrümmten Steg, so daß folglich max. nur 2 Saiten berührt werden können.

02 Steg konkav -

Ich schilderte in diesem Buch mein blankes Entsetzen, als mir der Cellolehrer eröffnete: „Du spielst zuerst die beiden unteren Saiten und dann die beiden oberen.”

[demonstriert am Cello]

Man wird sich jetzt fragen, warum ist das denn so schlimm? Ganz einfach: wir haben es doch mit „Musik” zu tun! Und wenn ein Akkord geschrieben steht, dann erwartet man etwas Klangvolles. Das sogenannte Brechen (man könnte auch sagen: „Erbrechen”, Klammer zu) der Akkorde in zwei Teile ist mit viel Geräuschhaften verbunden. Man kann behaupten, es kommt geradezu das Gegenteil von dem dabei heraus, was notiert ist und suggeriert wird.

*

Lange Zeit später wurde ich durch ein Werk Walter Zimmermanns wieder auf die Mehrstimmigkeit am Cello gestoßen. Das war im Frühjahr 1989. Damals hätte ich auch so reagieren können: „Lieber Walter, leider habe ich keinen Rundbogen, wenn du mir keinen schnitzt, war’s das halt. War schön, dich mal wieder gesehen zu haben.”

03 Steg konvex -

Walter Zimmermann brauchte die Mehrstimmigkeit, um in seinem Stück „Tyche“, was soviel bedeutet wie Schicksal oder Fügung, Einzeltöne eines Akkords unvorhersehbar in Obertöne kippen zu lassen. Das ist ein Vorgang, der sich der 100%-igen Kontrolle durch den Spieler entzieht:

WaZi Tyche Ausschnitt -

[spielt Klangbeispiel “Tyche”, zuerst einstimmig, dann mehrstimmig]

Mit nur einem oder zwei Tönen wäre dieser Vorgang kontrollierbarer. Diese Unschärfe ist bedingt einerseits durch die Griffhand, andererseits durch den Rundbogen, der ja für jeden Ton einer Saite die optimale Kontaktstelle benötigt, bei 4 Saiten aber immer einen Kompromiss finden muß.

Nun war’s geschehen, ich suchte nach einem Rundbogen, – fand aber keinen. Die Frage war damals doch berechtigt: Warum gibt es diese „Dinger” nicht? Heute weiß ich: weil die Konstruktion eines Rundbogens eine „etwas komplizierte” Angelegenheit ist.

Der gerade Bogen, eigentlich ein konkaver Bogen, dessen Bogenstange nach innen gebogen ist, also in seiner Mitte die Bogenhaare fast berührt, ist eine rein technische Erfindung.

[zeigt konkaven Bogen]

Die Perfektionierung des im 18. Jhdt. gebräuchlichen Bogens war eine logische Konsequenz. Für eine bessere Spielbarkeit konnte die Verlegung des Schwerpunkts des Bogens in Richtung Saite, also so tief wie nur irgend möglich, nur von Vorteil sein. Außerdem erhöhte sich dadurch die Spannung der Haare und die Federwirkung (für geworfene, springende Striche). Um einen solchen Gedanken ins Auge zu fassen, muß man nicht zwangsläufig ein Streichinstrument selbst spielen können. Denn die Handhabung dieses konkaven Bogens unterscheidet sich kaum von derjenigen seiner ebenfalls relativ flachen Vorgängermodelle.

Beim Rundbogen sieht das völlig anders aus.

Hier gibt es gleich mehrere Problemfelder. Sie müssen sich jetzt nicht alles merken, ich sag’s nur mal:

04 BB Schwerpunkt--
flacher und hoher BACH.Bogen mit markiertem Schwerpunkt

1. der hohe Schwerpunkt (flach < 4 cm, hoch 6 cm),

2. Material, Gewicht, Federeigenschaften,

3. die Bedienung des Hebels zur Regulierung der Haarspannung,

4. die Kontrolle des Bogens in allen 3 Achsen,

5. die Grifftechnik der linken Hand bei 3- bis 4-Stimmigkeit,

6. der erhöhte Kraftaufwand insgesamt.

Um es gleich vorweg zu nehmen, selbst wenn diese Problemfelder bereits zu Beginn der Entwicklung relativ klar umrissen waren, so ergaben sich doch unverhofft auch Vorteile, die nicht antizipierbar waren und die sowohl die Einstimmigkeit als auch die Mehrstimmigkeit betreffen:

1. eine Erweiterung des Klangreichtums und Obertonspektrums,

2. infolgedessen eine größere Modulationsbreite des Tons,

3. eine größere Bandbreite in der Lautstärke, auch im einstimmigen Spiel, wie gesagt,

4. eine schärfere artikulatorische Deutlichkeit,

5. eine Erleichterung des zweistimmigen Spiels gegenüber dem konkaven Bogen,

6. eine entspanntere Spielweise bei Einzelakkorden,

7. eine flexiblere und differenziertere Handhabung im entspannten Zustand (Haare locker).

Sie sehen, das sind eine ganze Reihe von Vorteilen, die sich einstellten. Aber erst, nachdem der Rundbogen perfektioniert war, vorher nicht.

05  BB 1990 -
BACH.Bogen Nr. 1 (1990)

Nun ja, ich hatte jetzt meinen Rundbogen 1990, spielte diesen aber nicht lange, denn er besaß komplett alle erwähnten Nachteile und folglich keine Vorteile, außer die Ermöglichung der Mehrstimmigkeit per se.

Trotzdem führte ich Walter Zimmermanns Werk im Mai 1990 damit auf und stellte im Sommer diesen Rundbogen John Cage in Darmstadt vor. Für das Werk John Cage’s ONE8 and 108” für Cello und großes Orchester, hier in Stuttgart 1991 uraufgeführt, …

06 Cage  Bach 1991 UA --
John Cage und Michael Bach nach der Uraufführung 1991

… benutzte ich allerdings schon 2 Nachfolgemodelle, einen flachen und einen hoch gewölbten Rundbogen für 3 oder 4 Saiten. Damit war eine kleine Erleichterung geschaffen, aber noch lange nicht der Durchbruch erzielt.

07 BB 2 und 3--
BACH.Bogen  Nr. 2 und Nr. 3 von 1991

Die Entwicklung eines praktikablen Rundbogens war, wie ich andeutete, außerdem eng mit der Spieltechnik der Griffhand verknüpft. Wen wunderts? Weil die linke Hand die Töne ja greifen muß, damit sie mit dem Rundbogen angestrichen werden können. Als Vorstudie zur Komposition John Cages entstanden meine Fingerboards. Das sind Pappstücke, die die Fingerkonstellationen der linken Hand abbilden.

08 FB I  4 strings -
Ein „Fingerboard” aus der Serie I (1990)

Zuerst entstand eine Serie mit nur 3 „Fingerboards“. Dann wurde mir klar, am nächsten Tag, daß das noch keine erschöpfende Beschreibung aller möglichen Griffweisen darstellen kann. So entstand eine weitere Serie mit 47 „Fingerboards” und eine dritte mit 45 „Fingerboards“. Letztere ist in meinem Buch „Fingerboards & Overtones  (edition spangenberg München, später Bärenreiter-Verlag Kassel) abgebildet.

09 FB III - 1+2 -
Die ersten beiden „Fingerboards” der Serie III (1990)

Diese Serie III zeigt die Funktionsweise der Griffhand und legt das anatomische Funktionsprinzip frei. Auch dies war eine Studie, die noch nie unternommen worden war. Das liegt daran, daß es erst bei 4 Saiten kompliziert wird.

10 Fingerkonstellationen -
Fingerkonstellationen auf 2, 3 und 4 Saiten

Man sieht: 1 „Fingerboard” für 2 Saiten, 6 „Fingerboards” für 3 Saiten und 38 „Fingerboards” für 4 Saiten. Also, je mehr Saiten gegriffen werden, um so komplizierter und umfangreicher wird die Beschreibung der Fingerkombinationen und -streckungen. Der Rundbogen stellt also neue Herausforderungen an die Griffhand.

 *

Im April 1991 flog ich nach NYC und erarbeitete direkt mit John Cage das gesamte Werk „ONE8“.

11  Cage ONE8 Titelseite -
Titelseite von „ONE8

Es besteht aus 53 Einzelklängen, die 1- bis 4-stimmig sind und auch meine Technik des Obertonspiels bis zum 32. Partialton anwendet. Es gibt z. B. Klänge, wie diese:

ONE8 Klangbeispiele[spielt Klangbeispiele aus „ONE8“]

Als wir gerade mit der Komposition fertig waren, kam Nam June Paik vorbei und wir führten ihm diesen letzten vierstimmigen Klang aus „ONE8” vor.

Während auf diese Art „ONE8” ein Abbild der verschiedenartigsten Klänge am Cello ist, – die Ausgangsfrage war ja: „Was kann am Cello, unter Verwendung des Rundbogens, alles gegriffen werden?”, so ist das letzte Werk, das ich mit John Cage ausarbeitete, „ONE13“, konträr angelegt.

12  Cage MBB ONE13 Titelseite -
Titelseite von „ONE13

Hier war die Frage: „Auf wieviele Arten kann eine einzige Tonhöhe gespielt werden?” Dieses Stück besteht aus nur 7 Tonhöhen, die nacheinander folgen und beleuchtet werden. Z. B. die Tonhöhe g” hat 101 Griffmöglichkeiten am Cello. Ich nehme jetzt aber die Tonhöhe a’ wegen der 4-Stimmigkeit. Nicht alle Tonhöhen lassen sich 4-stimmig spielen:

ONE13 Klangbeispiele

[spielt Klangbeispiele für unterschiedliche Griffe von a’]

John Cage und ich waren von dem paradoxen Vorgang fasziniert, den Rundbogen in „ONE13” dazu zu benutzen, einen „Einklang”, also Primen zu produzieren, wo er doch für mehrstimmige Klänge geschaffen worden war. Die Konzentration auf nur eine einzige Tonhöhe schärft das Bewußtsein für alle anderen Parameter eines Klangs. Aber letztlich ist die Tonhöhe selbst nie konstant und, aufgrund der Einbeziehung der Obertöne, mikrotonal schwankend.

Und so zeigte sich auch, daß der Rundbogen selbst in der Einstimmigkeit dem konkaven Bogen überlegen ist, denn dieser hat für die Tonhöhe g” nur noch 81 Griffmöglichkeiten. Nimmt man die von mir entwickelten Obertontechniken heraus, dann sind es in etwa nur noch 50 Griffe, also die Hälfte von 101. Aber immerhin, das Klavier hat für diese Tonhöhe nur eine einzige Taste.

 *

Mit diesen beiden Rundbögen spielte ich auch die Uraufführung von Dieter Schnebels Werk für Cello und Stimme „Mit diesen Händen” bei der „Heinrich Böll Woche” in Köln 1992.

13  Schnebel Probe Köln 1992 -- Michael Bach und William Pearson bei einer Probe mit dem WDR im Kölner Gürzenich 

Trotzdem, daß auch Dieter Schnebel und ich zusammen gearbeitet hatten, gab es doch noch ein hartnäckiges Problem, das ich gehofft hatte, im Verlauf der Jahre bewältigen zu können. Gerade in einem Satz dieses Stücks, der konsequent vierstimmig ist, und den ich anfänglich auch so spielte, wurde mir – „bewußt” ist definitiv das falsche Wort – schmerzhaft die Erkenntnis „eingetrichtert”, daß kräftemäßig die Herausforderung an die Griffhand, selbst für mich mit großen Händen, nicht zu stemmen war. Das war einfach nicht „in den Griff zu kriegen”.

14  MdH Titelseite -
Titelseite von „Mit diesen Händen

So habe ich Dieters Werk leicht bearbeitet in dem Sinne, daß ich die permanente Vierstimmigkeit an Stellen reduziert habe zur Dreistimmigkeit, oder manchmal gar zur Zweistimmigkeit, um die Finger kurzfristig zu entlasten.

Gleichzeitig war das ein „musikalischer” Zugewinn, weil die Klangqualität eines zwei-, drei- oder vierstimmigen Zusammenklangs vernehmbar anders ist, wie Sie z. B. gleich zu Beginn des Stücks hören können:

[spielt die ersten Takte von „Text I” aus „Mit diesen Händen” von Dieter Schnebel]

Dieter Schnebel war mit dieser Version von mir sehr einverstanden.

*

Das leitet nun über zu einem Werk Niccolò Paganinis, das ebenso permanent 4-stimmig ist: das Capriccio von 1828.

15  Paganini-Capriccio
Erste Seite des „Capriccio” 1828 von Niccolò Paganini

Man erkennt, daß es auf 4 Notensystemen notiert ist, so, wie ein Streichquartett.

Um es spielen zu können, löste Paganini dafür den Frosch von der Bogenstange, legte die Haare über die Saiten und führte die Bogenstange unter der Geige durch:

16  Paganini Technik --
Paganini Technik

Das ist aber eine ziemlich „haarige” Angelegenheit  [Publikum lacht]. denn bei der Vorbereitung dieser Spieltechnik hat man ständig die Bogenhaare da, wo man sie überhaupt nicht gebrauchen kann und auch wieder nur mühsam wegbekommt: in den Feinstimmern, verhakt am Saitenhalter oder in den Stimmwirbeln.

Nachteile dieser Spieltechnik sind:

1. es ist ziemlich umständlich, den Frosch ab- und anzuschrauben,

2. sie erlaubt nur eine durchgehende 4-Stimmigkeit und

3. die Bogenhaltung läßt kein differenzierteres Spiel zu.

Der Vorteil:

eine kuriose Optik, die immer ein Spektakel ist.

Der Jazz-Geiger Joe Venuti, der diese Spielart auch praktizierte, nannte sie: the „loose-bow-fiddle-technique”

Übrigens hat sich noch kein Geiger an diesem “Capriccio” versucht: es ist offensichtlich auf der Geige unspielbar.

[spielt „Capriccio” von Paganini]

[Applaus]

Wie dem auch sei, diese Paganini-Methode kann man am Cello nicht praktizieren. Das Cello ist viel zu „dick” und der Bogen sogar noch kürzer als der Geigenbogen. Deshalb hat eine andere „Technik”, in Anführungszeichen, von sich hören lassen, nämlich 4 Saiten mit 2 konkaven Bögen anzustreichen, einer über den Saiten und einer unter den Saiten. Das nenne ich einen „Schildbürgerstreich”, der aus der Not heraus geboren ist.

[versucht, mit der “2 Bogen-Technik” den Anfang des „Capriccio” zu spielen]

[Publikum lacht]

Diese Technik hat eigentlich nur unüberbrückbare Nachteile:

1. es ist noch viel umständlicher, 2 Bögen zu benutzen,

2. die 4-Stimmigkeit ist ziemlich unstabil,

3. der Klang des 2. Bogens unter den Saiten ist gequetscht,

4. die Handhabung ist brutal und undifferenziert,

5. es muß noch dazu das doppelte Gewicht bewegt werden.

Wenn man bedenkt, wie wahnsinnig pingelig Streicher sind, wenn es um die Spieleigenschaften und das Gewicht nur eines Bogens geht, dann ist diese „Technik” völlig indiskutabel. Eine Bach-Suite kann man damit nicht „in Angriff nehmen”, auch nicht „krampfhaft”. Und die Werke, die für den Rundbogen geschrieben wurden, auch nicht.

Ob die aus meiner Sicht erbärmliche Optik ein Vorteil ist, darauf möge jeder sich selbst seinen eigenen Reim machen.  [Publikum lacht]

An letzteren beiden Beispielen kann gezeigt werden, was instrumentaltechnisch und kompositorisch aus meiner Sicht keine Weiterentwicklung oder Verbesserung bedeutet. Denn mit diesen Techniken wird das Instrumentarium speziell auf einen einzelnen Effekt hin verändert. Man muß diese Veränderung rückgängig machen, wenn andere klangliche Resultate erzielt werden sollen. Mein Verständnis von einer Perfektionierung eines Instruments zielt genau in die andere Richtung: eine möglichst breite Palette an Klanglichkeit anzustreben. Der heutige BACH.Bogen, in seinen beiden Ausformungen, ist das Ergebnis hiervon.

*

Nun, der Gang meines Vortrags hat mich noch nicht dazu kommen lassen, die Begegnung mit dem Violinvirtuosen Rudolf Gähler zu erwähnen. Ich hatte seine Bogenforschungs-gesellschaft bereits im Sommer 1990 kontaktiert und ein erstes Treffen fand wohl im Herbst statt. Da erfuhr ich dann zum 1. Mal, daß es Bestrebungen seit Anfang des 20. Jhdts gab, die Geigensolowerke Bachs mit einem Rundbogen aufzuführen. Das ging auf Albert Schweitzer zurück, der schon in seinem Bach-Buch von 1905 diese Forderung aufstellte und der zeitlebens ein glühender Verfechter des Rundbogenspiels war.

18a Schweitzer-Telmányi -
Emil Telmányi und Albert Schweitzer, 1954

Ich lernte auch etliche Rundbogenmodelle aus der Privatsammlung Rudolf Gählers kennen. Da wurde mir klar, daß der Cellorundbogen, den ich spielte, diesen Modellen nachgebildet war. Klar war auch, daß die spieltechnischen Probleme am Cello weitaus verschärft sind, die andere Haltung, der andere Spielwinkel des Bogens und der erhöhte Kraftaufwand müßten eigentlich andere konstruktive Lösungen nach sich ziehen.

Auch gab mir Rudolf Gähler Cassettenaufnahmen jener Geiger, die mit ihren verschiedenen Rundbogenmodellen J. S. Bach spielten. Das wirkte auf mich wie eine Vitaminspritze. Denn hatte ich im Sommer 1990 noch in Berlin bei einem Seminar, wo übrigens Dieter Schnebel bereits anwesend war, noch behauptet, nie würde ich J. S. Bach damit spielen wollen, so war ich nun durch diese Geigenkonkurrenz in Zugzwang geraten. Denn der mehrstimmige Geigenklang in diesen Aufnahmen begeisterten mich, obwohl deren Spiel mit dem Rundbogen, erst Recht aus heutiger Sicht, doch noch unvollkommen war. Erst Jahre später hat Rudolf Gähler mit seinen eigenen CD-Aufnahmen einen hohen Standard für ein virtuoses Rundbogenspiel geliefert.

[spielt am Cello den Anfang der „Chaconne” für Violine von J. S. Bach]

 *

Doch, ich tat mich schwer, die Frage der Neukonstruktion wirklich anzugehen, weil ich erahnte, was auf mich zukommen würde, mit einem womöglich „offenen Ende” sozusagen. Auf halber Strecke wollte ich doch nicht stecken bleiben, nach dem Motto: „wenn schon, denn schon”. Am Ende wollte ich ein perfektes Instrument in Händen halten, das dem traditionellen Bogen in nichts nachstehen sollte. Ich zögerte deshalb noch.

Zunächst forderten noch andere Aufgaben meine Aufmerksamkeit, z. B. ausgelöst durch den Tod John Cages und das Schicksal des letzten Werks “ONE13“, das er mit mir begonnen hatte, die Arbeit an einem Differenztonprogramm mit Pierre Dutilleux am ZKM Karlsruhe z. B., oder auch die Saiteninstallationsprojekte zusammen mit Renate Hoffleit (die erste Saiteninstallation war anläßlich der Donaueschinger Musiktage 1994).

19  Die Zeit 1994 -
Die Zeit 1994

Aber dann war es doch soweit, im Frühjahr 1995 begann ich in Irland die ersten Skizzen und Modellzeichnungen anzufertigen.

20  BB Skizze 1995 05 22 ---
Skizze BACH.Bogen, 1995

Die Absicht war, auf dem bisherigen Hebelprinzip aufbauend eine weitere Optimierung anzustreben. Ich suchte also nach kräftesparenden Hebelbewegungen und -formen. Z. B. das Problem, daß ein längerer Hebel gleichzeitig größere Auslenkung verursacht, auch das war ja zu vermeiden. Der spieltechnische Aufwand sollte so gering wie möglich sein: wenig Kraft und gleichzeitig wenig Bewegung. Aber mechanisch gesehen, war da nichts zu machen. So wie das „Perpetuum mobile” nicht existiert, so konnte ich auch keine „physikalische Arbeit” einsparen.

Auch Materialfragen wurden von mir bearbeitet, z. B. Kohlefaser. Auch Designvorstellungen spielten eine große Rolle. Denn, sagen Sie selbst, dieses Rundbogenmodell, von dem ich aus startete, ist es optisch überzeugend? So wie es aussieht, funktioniert es auch: nämlich schlecht. „Form follows function” ist leicht gesagt, aber schwer umgesetzt.

 *

Anfang 1997, nach 1½ Jahren Forschungsarbeit und weiteren Prototypen, hatte ich dann ein ausführliches Gespräch mit Luigi Colani in Köln. Er wollte sich in die Weiterentwicklung meines Rundbogens einbringen. Leider kam es dann doch nicht dazu. Er hatte sogar eine geniale Idee, der Bogen sollte beim ein- bis zweistimmigen Spiel gerade sein und beim 3- bis 4-stimmigen Spiel eine ausreichend starke Krümmung annehmen. Doch wie das bewerkstelligen? Eine richtig Buckminster-Fullereske Idee war das.

Colani empfahl mir auch, zusätzlich Rückhalt bei meinen Kollegen zu suchen. Das versuchte ich auch. Aber man kann „sich die Augen reiben”, der einzige „Kollege” von allen, die ich kontaktierte, der mir antwortete, war einer, der mich nicht kannte: Mstislaw Rostropowitsch. Er schrieb: „Please come to Kronberg and show me your fiddle stick.”  [Publikum lacht]

Sie haben also verstanden, zu deutsch: “Kommen Sie bitte nach Kronberg und zeigen Sie mir Ihren Fiddelstock.” Sie sehen auf dem Foto in Kronberg, aufgenommen von Renate Hoffleit, u. a. auch Marta Casals-Istomin. Das war im Herbst 1997 …

21  Rostro Kronberg --
Kronberg 1997

… und der Beginn einer 4-jährigen Entwicklungsarbeit, die Rostropowitsch intensiv verfolgte.

Viele Freunde hatten mich gewarnt, „Bloß nicht! Dieser Rostropowitsch ist unzuverlässig und hält keine Termine ein”, etc. Aber dieses Gerücht bewahrheitete sich glücklicherweise nicht. Um Ihnen ein anschauliches Beispiel zu liefern, das ging in etwa so: Ich wählte Rostropowitschs Tel.Nr. in Paris. Nachdem ich seine russische Haushälterin, die kaum einen Brocken Französisch hervorbrachte, von der Dringlichkeit meines Anrufs irgendwie überzeugt hatte, kam dann er ans Telefon: „Come to Berlin. Ich da am soundsovielten.” Ich: „Alles klar.”

So „groß” Berlin auch sein mag, ich rief postwendend bei den Philharmonikern an: „Probe mit Lorin Maazel am soundsovielten.” Ich mußte beim Orchestervorstand oder Fünferrat der Berliner Philharmoniker um Erlaubnis anfragen, am Tag der Generalprobe in die Philharmonie eingelassen zu werden. Dieser lehnte schließlich ab. Unbeeindruckt davon fuhr ich trotzdem nach Berlin, ging am besagten Tag zur Philharmonie, mit meinem Rundbogen, am Pförtner freundlich grüßend vorbei, und setzte mich in den Saal.

Nach der Probe folgte ich Rostropowitsch und Maazel bis zum Dirigentenzimmer. Dort mußte Rostropowitsch eine Nachprobe mit dem Maestro am Klavier über sich ergehen lassen. Während ich wartete, kam der Impressario Witiko Adler auf mich zu und fragte, auf wen ich hier warten würde. Ich: „Ein Treffen mit Rostropowitsch.” Er ging daraufhin in das Dirigentenzimmer und kam mit der Nachricht zurück: „Herr Rostropowitsch kann sich an keinen Termin erinnern.” Ich zuckte mit den Schultern und wartete weiter. Rostropowitsch kam schlußendlich abgekämpft aus dem Zimmer, sah mich: „Ah, mein Freund, kommen hier.” Auch dieses Treffen wurde photografisch festgehalten von Renate Hoffleit. Herr Adler war übrigens dabei anwesend.

22  Rostro Berlin -
Berlin 1998

Später habe ich übrigens auch Lorin Maazel einmal in München getroffen, der selbst die Violinwerke Bachs spielt und sich deshalb für den Rundbogen interessierte.

Bei den ersten Begegnungen mit Rostropowitsch ging es in der Hauptsache um die verbesserte Spielbarkeit des Rundbogens. Er wollte einen besseren Halt haben und eine andere ergonomische Ausgestaltung des Griffs. Ich konnte das gut nachvollziehen, da dies auch mein innigster Wunsch war. Nur: wie?

So ging das eine Weile zwischen Paris und Berlin hin und her, bis er bei einem Treffen im Mai 1999 in Berlin, eigentlich sollte die Entwicklung mit dem neuesten Modell damit abgeschlossen sein, auf einmal inne hielt – für meinen Geschmack etwas zu lange – und dann sagte: „Ich, geniale Idee!”. Mir fuhr es in alle Glieder: „Wie bitte?”. Mir schwante nichts Gutes. „Wir machen Hebel für Zeigefinger.” Sprach’s und zückte seinen Kugelschreiber, um mir „netterweise” eine Skizze anzufertigen:

23  Rostro Skizze Berlin 1999 --
Rostropowitschs Skizze in Berlin 1999

Das sieht wie ein konventioneller Bogen aus, und da im Frosch gibt es etwas zum Aufwickeln.

Ich blieb „cool”, wußte aber, daß dieses Ansinnen nicht realisierbar war und, noch schlimmer, daß die bisherige Arbeit, auf gut Deutsch gesagt, „für die Katz” gewesen wäre, wenn es mir nicht gelänge, den Maestro „umzustimmen”. Genau das ging mir durch den Kopf, und nichts anderes, in diesem Moment.

Beim nächsten Treffen in der Stadt Essen hatte ich 2 Rundbogenprototypen im Gepäck, einen mit einem Zeigefingerhebel und einen Bogen mit neugestalteten Daumenhebel. Von dem letzteren wollte er nichts wissen. Er probierte den Zeigefingerhebel, der als Umlenkhebel konzipiert war, so daß im gespannten Zustand der Zeigefinger keinen Zug mehr aushalten mußte und somit entlastet war.

24  Zeigefingerhebel --
Rundbogenprototyp mit Zeigefingerhebel, Essen 1999

Das gefiel ihm natürlich nicht. So machte er sich nochmals ans Werk und zeichnete für mich erneut seine „geniale Idee”:

25  Rostro Skizze Essen 1999 -
Rostropowitschs Skizze, Essen 1999

Also, es führte kein Weg um diese fixe Idee herum.

Bereits knapp 2 Wochen später, wieder in Berlin, wo er zu den Feierlichkeiten “10 Jahre Mauerfall” am Brandenburger Tor eingeladen war, hatte ich für ihn mehrere “Folterinstrumente” mitgebracht.

26  BB 1999 11 Versuchsgriffe 1-- 27  BB 1999 11 Versuchsbogen 2- 28  BB 1999 11 Versuchsbogen 3-
“Folterinstrumente”, Berlin 1999

Er blieb trotzdem bei seiner Idee, es war einfach nichts zu machen. Verflixt noch mal.

Jetzt brauchte ich mal eine Pause. Das Jahr 2000 war ohnehin randvoll mit anderen „schönen” Beschäftigungen. Erst im Herbst 2000 befaßte ich mich mit der Thematik Zeigefingerhebel erneut. Ich holte nochmals „ganz” neu aus und versuchte mich an die Anfänge zu erinnern. Und da fiel mir ein, daß ich den Hebel des ersten Rundbogens ja gar nicht mit dem Daumen sondern mit dem Mittelfinger bediente. Das ist zwar auch nicht optimal, aber es machte mir bewußt, daß ich den Hebel aus denselben Gründen, die Rostropowitsch dazu bewegten, nach anderen Lösungen Ausschau zu halten, nicht mit dem Daumen führte.

Warum ist das so?

Zur Stabilisierung des Rundbogens legen die Geiger den kleinen Finger hinter die Bogenstange. Am Cello ist auch dies schwieriger, weil der Winkel ein anderer ist und somit der kleine Finger sehr großem Druck ausgesetzt ist. Dies hatte bei etlichen Modellen für Cello dazu geführt, eine Ausbuchtung für den kleinen Finger vorzusehen:

29  BB 7 Griff -- 30  BB 17 Rostro 3-2 --
BACH.Bogen Modelle mit Ausbuchtung für den kleinen Finger

Das obere Modell spielt beispielsweise Anton Lukoszevieze (London), das untere Modell spielt Gustav Rivinius.

Im Prinzip ging es um eine Stabilisierung des Rundbogens in allen 3 räumlichen Dimensionen.

[demonstriert erneut mit dem BACH.Bogen]

Die Verwendung des Mittelfingers als Gegenkraft zum Daumen schien aus diesem Grund erforderlich zu sein. So entstand im Sept. 2000 meine erste Ideenskizze, die dieses Prinzip berücksichtigt. Sie sieht sogar etwas “Colani-haft” aus:

31  BB Skizze 2000 09 04 --
Skizze vom 4. Sept. 2000 

Man kann erkennen, daß das Mittelstück des Bogengriffs ausklappbar und mit Daumen und Mittelfinger bedienbar ist. Dies erfordert aber eine feste Verbindung des Endstücks mit der Bogenstange. Gewährleisten sollte das ein Bügel über der Hand. Gleichzeitig stellte ich mir vor, daß dieser Bügel die Kontrolle des Bogens sogar verbessern könnte.

Realisiert wurde dieser Griff jedoch nicht, da ich eine viel bessere Lösung fand, nämlich die Halbierung des Griffs, so daß die Vorderseite durchgängig erhalten bleibt und die Rückseite eine Aussparung erhält, worin der Hebel mit Frosch aufgenommen werden kann:

32  BB Frosch --
neuer Frosch von allen 3 Seiten

So konnte der Mittelfinger den erforderlichen Gegendruck zum Daumen gewährleisten und dessen Bewegungen mitverfolgen. Im Grunde genommen hatte ich eine Art Scherenmechanismus entworfen. Es sieht zwar wie ein Daumenhebel aus, aber je nach Betrachtungsstandpunkt könnte man auch sagen der Frosch bleibt stabil in der Hand und die Stange bewegt sich.

[demonstriert mit BACH.Bogen]

Das wäre in etwa dann der von Rostropowitsch „gewünschte” Zeigefingerhebel. Die Bewegung findet mit dem Zeigefinger und dem kleinen Finger statt. Die Beherrschung des Rundbogens im dreidimensionalen Raum war somit garantiert.

Doch zunächst hatte ich noch im Dezember 2000 eine öffentliche Begegnung mit meinem ehemaligen Lehrer Janos Starker in Genf, im Grande Salle du Conservatoire, wozu ich allerdings dieses neue Modell noch nicht mitnahm, denn es gab noch eine ergonomische Frage unbedingt zu klären, die Ausformung für den Daumen.

33  BB Frosch Prototyp --
Prototyp Frosch 2000 von allen 3 Seiten

Die Benutzung dieses Prototyps war binnen kürzester Zeit sehr schmerzhaft, weil sich das Nagelbett des Daumens entzündete.

Janos Starker war ein scharfer Analytiker der Spieltechnik.

34  Starker -
Janos Starker mit BACH.Bogen in Genf 2000

Von ihm erhoffte ich, daß er, wie Rostropowitsch, tiefer in die Fragen der Spielbarkeit einsteigen würde, aber das hat sich leider nicht ergeben. Es war auch im weiteren Verlauf der Entwicklung unnötig.

Die Lösung für die Ausformung der Daumenöffnung war dann diese, sie ähnelt sehr stark der Form des konventionellen Bogens:

35  Frosch BB und Konkav --
neuer Frosch des BACH.Bogen und konventioneller Bogen

Worauf es ankommt, ist diese Aussparung, wo der Daumennagel zu liegen kommt und dieser Höcker, wo die gesamte Kraft der Daumenkuppe ansetzt. Die größere Masse des Frosches wirkt sich außerdem positiv auf die Handhabung aus, und sogar auf den Klang.

Nun war wieder ein Treffen mit Rostropowitsch angesagt, diesmal in Amsterdam im Sommer 2001. Ich ging das Risiko ein, da ich keinen Zeigefingerhebel nach seinem Gusto im Gepäck hatte, „hochkant” aus dem Raum zu fliegen. Aber als Rostropowitsch diesen Bogen sah, hatte er mit einem Schlag begriffen, daß das die endgültige Lösung war:

36  Rostro Amsterdam -
Rostropowitsch mit dem neuen Modell des BACH.Bogen in Amsterdam 2001

Sie sehen auf dem allerersten. Foto, das Renate Hoffleit bei diesem Treffen machte, wie er gleich den Rundbogen in die Höhe hielt. Er hatte ihn noch nicht am Cello ausprobiert.

So stelle ich mir Siegfried mit seinem Schwert Balmung vor  [Publikum lacht]. Beim Abschied sagte er mit einem Augenzwinkern: „I am jeallous.” Zu deutsch: “Ich bin neidisch”.

Die offizielle Präsentation dieses BACH.Bogen fand dann im Oktober 2001 in Paris statt, anläßlich des 7ème Concours de violoncelle Rostropovitch.

37  Rostro Autogramm 2001 -
Präsentation des BACH.Bogen in Paris 2001

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An dem Design des BACH.Bogen hat sich seither grundsätzlich nichts mehr geändert. Beim Ausstellungswettbewerb „Bachläufe” 2012 in Arnstadt wurde dem BACH.Bogen aufgrund seines Designs der 1. Preis zuerkannt.

38  Bachläufe Arnstadt -
Ausstellungswettbewerb “Bachläufe” in Arnstadt 2012

Ich erwähne das nur deshalb, weil es typisch für die Geschichte 25 Jahre BACH.Bogen ist, daß diejenigen, für die der Rundbogen entworfen und perfektioniert wurde, sich zuletzt dafür interessieren. Das liegt daran, daß es kein perfektionierter konkaver Bogen ist, sondern in der Tat ein neues Instrument. Ein neues Instrument, das neue Fertigkeiten vom Spieler verlangt. Das ist auch der Grund, warum sich zu allererst Komponisten dafür interessierten.

Trotzdem, die Zeiten ändern sich. Es ist ungefähr so, wie Arthur Schopenhauer formulierte: “Jede Wahrheit (man könnte auch sagen: jede Neuheit in der Kunst) durchläuft drei Stufen: Erst erscheint sie lächerlich, dann wird sie bekämpft, und schließlich ist sie selbstverständlich.” Beim BACH.Bogen erlebe ich heute die Simultanität dieser drei Stadien.

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Abschließend:

Die Herausforderung für den konkaven Bogen ist das mehrstimmige Spiel, um nicht deutlich zu sagen, daß dies eine Unmöglichkeit darstellt. Diejenige des konvexen Bogens ist das einstimmige Spiel. Für die Werke J. S.Bachs wurde deshalb ein flaches Rundbogenmodell entwickelt:

39  BB flach hoch --
beide BACH.Bogen Modelle

Doch, Ironie des Schicksals: um dieses flache Modell nochmals auf Herz und Nieren zu prüfen, habe ich im Jahr 2011 mir das Faksimile der Abschrift der “Suiten” für Cello von Anna Magdalena Bach nochmal aufs Notenpult gelegt. (Ein Autograph ist nicht erhalten geblieben.) Ich wollte wissen, ob die originalen Bindebögen kompromißlos ausführbar sind. Ich stützte mich dabei nicht auf die Urtextausgaben, weil ich von vorneherein ja wußte, daß diese eine Menge bogentechnische Probleme aufwerfen. Und siehe da, die Abschrift von Anna Magdalena Bach unterscheidet sich da grundsätzlich von den Urtextausgaben. Die Bindebögen in ihrer Abschrift sind bestens mit dem flachen Rundbogen ausführbar.

40  Prélude G - AMB -
Beginn der Abschrift des ersten “Préludes” von Anna Magdalena Bach

So hat der Rundbogen die Interpretation der Werke J. S. Bachs total umgekrempelt. Nicht alleinig wegen des mehrstimmigen Spiels sondern insbesondere durch das Studium der Bindebögen. Denn, das zeigte sich unerwarteterweise, die Untersuchung der Bindebögen war nicht nur eine spieltechnische Frage. Vielmehr, und das ist eine neue Erkenntnis, geben sie Auskunft über das harmonische Verständnis dieser Werke und, daraus resultierend, auch über dynamische und agogische Prozesse. Das hat mein Bach-Bild revolutioniert. Was das alles bedeutet, kann man in meinem Weblog „the bach update” studieren.

Da eine Neu- Edition der Cellosuiten in der Neuen Bach-Ausgabe ansteht, hoffe ich, daß diese Erkenntnisse berücksichtigt werden und Einzug im allgemeinen Wissensgut halten. Ich nenne den Komplex: „Der Bindebogen-Kodex” in diesen Werken. Denn es ist ein richtiges Regelwerk, was J. S. Bach sich hat einfallen lassen.

Als Kostprobe nun zum Abschluß das „Prélude” in G-dur:

[spielt „Prélude” in G-dur von J. S. Bach]

Michael Bach