Heute vor 25 Jahren
John Cage, FAX an Michael Bach vom 03. August 1992
Mein letztes Telefonat mit John Cage führte ich am 03. August 1992 von Stuttgart nach New York City. Es ging um die weitere Ausarbeitung von “ONE13” für Violoncello mit Rundbogen und Zuspielungen 1). Dieses Werk besteht aus acht Abschnitten, wobei jeder Abschnitt ausschließlich einer einzigen Tonhöhe zugeordnet ist.
Die Besonderheit am Cello ist nun, daß eine spezifische Tonhöhe nicht nur auf verschiedenen Saiten erzeugt werden, sondern unter Einbeziehung von unterschiedlichen Obertönen (sogenannte natürliche oder künstliche Flageolettöne) erklingen kann. Mit dem Rundbogen sind auch drei- oder vierstimmige Zusammenklänge möglich.
Für die Tonhöhe fis’ haben John Cage und ich am 20. Juli 1992 in New York insgesamt 20 Zusammenklänge notiert:
John Cage, Griffnotationen der Tonhöhe fis’ vom 20. Juli 1992
Zuvor, am 18. Juli führten John Cage und ich ein längeres Gespräch über verschiedene Themen, das Joan Retallack aufnahm und später im Buch “MUSICAGE” 2) veröffentlichte. Wir begannen, zum Abschluß, mit einer neuen Version von “Ryoanji” für Cello, wobei sich ein Zufallsergebnis einstellte, das die kompositorische Arbeit grundlegend beinflussen und verändern sollte: nämlich die Prim fis’ 3). Den Vorgang schildere ich im Vorwort zu “ONE13” 4).
Am nächsten Tag arbeiteten wir den ersten Teil von “Ryoanji” aus und am 20. Juli befaßten wir uns mit dem dritten Teil, der diese Prim fis’ enthält. Wir übersprangen also den zweiten Teil aus Zeitgründen, da am letzten Tag meines New Yorker Aufenthalts der Frage nachgegangen werden sollte, wie sich ein Zusammenklang gleicher Tonhöhen auswirkt, spieltechnisch und gehörsmäßig.
Zurück in Europa begann ich, noch während der Darmstädter Ferienkurse, mit der Ausarbeitung der anderen Tonhöhen für die restlichen Teile von “ONE13“. Diese sehr umfangreiche Liste von Zusammenklängen soll John Cage noch knapp vor seinem Tod erhalten haben. Jedenfalls hatte ich John am 03. August telefonisch gebeten, mir doch die beiden Blätter mit den fis’ Klängen zuzufaxen, um meine Arbeit mit den anderen Tonhöhen abschließen zu können. Zu meiner Überraschung sandte er mir, noch am gleichen Tag, eine Reinschrift dieser fis’ Zusammenklänge zu (s. o.).
John Cage starb am 13. August.
Am 20. September war ich mit Merce Cunningham in Frankfurt a. M. verabredet. Er gastierte dort mit seiner Dance Company. Merce versprach, Kopien meiner letzten Zusammenarbeit mit John zu senden, die ich Anfang Oktober erhielt. Zu meiner großen Überraschung waren darunter nicht die Partiturblätter zu “Ryoanji“, auch nicht diejenigen beiden Blätter, die wir gemeinsam in New York fertigstellten, sondern die vollständige Partitur von “ONE13“. Der erste Teil mit der zentralen Note fis’ war komplett fertig, aber die restlichen Teile noch nicht, da er auf meine Liste mit den entsprechenden Zusammenklängen wartete. In den mir von Merce übermittelten Unterlagen waren aber bereits die Zufallszahlen für deren Auswahl schon vorhanden.
John Cage, Griffnotationen der Tonhöhe fis’, zugesandt von Merce Cunningham
Die Suche nach “Ryoanji”, zumindest nach den beiden fertig gestellten Seiten des ersten Teils, setzte sich fort. Niemand aus dem Bekanntenkreis von John Cage konnte sich vorstellen, daß er sie vernichtet haben könnte. Laura Kuhn, die Geschäftsführerin des “The John Cage Trust” faxte mir im März 1993 nochmals die gleiche Liste mit fis’ Klängen:
John Cage, Griffnotationen der Tonhöhe fis’, gefaxt von Laura Kuhn
Dies war natürlich keine der Seiten aus “Ryoanji“, die ich vermißte. Um Klarheit zu schaffen, flog ich im Juli 1993 nach New York, um mich mit Laura und Merce zu treffen und um im Nachlaß nach diesen verschollenen Seiten suchen zu können. Vergebens. Von “Ryoanji” für Cello sind aus der Feder von John Cage demnach nur erhalten, die Skizze zu den Tonräumen vom 18. Juli 1992 und der dritte Teil, welcher identisch mit dem ersten Teil von “ONE13” ist. Im Programmheft der Donaueschinger Musiktage 1994, wo ich unter Zuhilfenahme meiner eigenen Aufzeichnungen eine rekonstruierte Fassung under dem Titel “Ryoanji-Material” uraufführte, werden diese Zusammenhänge näher erläutert.
Verschollen sind übrigens auch die 15 Schablonen aus Pappe, die Umrisse von kleinen Steinen darstellten, welche sich John Cage für die Komposition “Ryoanji” hergestellt hatte. Hiervon gibt es nur noch meine Abzeichnung aus diesen Julitagen in New York. Diese Umrisse waren aber essentiell für die Rekonstruktion und Fertigstellung des Werks für Donaueschingen.
Michael Bach Bachtischa, Skizze 19-07-1992 (Ausschnitt)
Michael Bach
1) John Cage und Michael Bach Bachtischa, “ONE13” für Violoncello mit Rundbogen
und Zuspielungen (1992), C. F. Peters Corp.
2) “MUSICAGE“, Editor: Joan Retallack, Wesleyan University Press, Hanover 1996
3) Unter einer Prim versteht man den Zusammenklang von zwei Tönen der gleichen Frequenz.
4) Vorwort zu “ONE13” : http://www.bach-bogen.de/john-cage.html