Eine neue Sicht auf die Kompositionen für Violine und Cello solo von Johann Sebastian Bach
Die Bindebögen in der Abschrift von Anna Magdalena Bach sind – entgegen der herkömmlichen Auffassung – keinesfalls artikulatorische Bezeichnungen. Sie kennzeichnen hingegen die harmonischen Prozesse und unterstreichen somit die Dominanz der Harmonik. Dies ist ein einmaliger Fakt, der bislang nicht erkannt wurde.
Johann Sebastian Bach hat diese Werke mit ihrer hochkomplexen Harmonik eben nicht für ein Harmonieinstrument sondern dezidiert für ein Melodieinstrument komponiert – was, vordergründig betrachtet, paradox erscheint. Es ist demnach keineswegs als Mangel anzusehen, daß ein Harmonieinstrument fehlt. Im Gegenteil, eine Harmonisierung hinzuzufügen ist a priori unmöglich.
Bei den Bindebögen geht es also im Wesentlichen gerade nicht um Artikulation, um die Bindung von Noten, um ein sogenanntes Legato, sondern um die Hervorhebung von Tonhöhen, die harmonisch bestimmend sind. In Sequenzen beispielsweise, bei Wiederholungen eines Motivs auf einer anderen Tonstufe, verschieben sich die Tonhöhen, welche die Harmonik definieren, innerhalb dieses Motivs, so daß sich zwangsläufig die Setzung der Bindebögen dementsprechend verschiebt.
Die Harmoniebezogenheit der Bindebögen steht auch klanglich im Gegensatz zur Artikulation. Denn der Geräuschanteil, der sogenannte „Ansatz” eines Tons, tritt in den Hintergrund. Hier geht es alleinig um die Gewichtung der Tonhöhen, sprich Frequenzen, untereinander. Insofern ist die Setzung der Bindebögen ein strukturell bedeutender, dritter Hauptparameter neben Tonhöhe und Rhythmus.
J. S. Bach nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf das Metrum. Auch dies ist zunächst verblüffend. Oftmals sind aufgrund der Bindebögen Tonhöhen betont, die auf metrisch schwachen Zählzeiten stehen. Dies führt zu einem agogisch variierten Rhythmus, so daß sogar das starre metrische Muster, d. h. die Betonung der starken Zählzeiten, außer Kraft gesetzt wird. Dadurch entsteht eine expressive Spannung zwischen der klanglichen Darstellung der Harmonik und des notierten Rhythmus. (Von wegen: „Tanzsätze”…)
Mit den Bindebögen in A. M. Bachs Abschrift manifestiert sich deutlich die Intention von J. S. Bach, die Lesart des Komponisten eben. Die Bindebögen zeigen, daß diese Solowerke noch weitaus unkonventioneller sind, als gemeinhin vermutet wird. Historische Aufführungspraxis ist peripher. Es gibt nichts Vergleichbares in der Literatur für Violine und Cello, also auch keine Aufführungstradition für diese Werke.
Während von den Cellosuiten kein Autograph erhalten geblieben ist, existiert von den Violinwerken hingegen, neben der Abschrift von A. M. Bach, eine einzige Version in J. S. Bachs eigener Handschrift. Es muß sich dabei um eine Erstfassung handeln, von der A. M. Bach offensichtlich nicht abgeschrieben hat. Schließlich liegen bis zu 10 Jahre zwischen der Komposition und dieser Abschrift, ein langer Zeitraum, den J. S. Bach selbst am Instrument nutzte für eingehende Experimente zur vertiefenden Interpretation seiner Werke. Die Abschrift der Violinsolowerke von A. M. Bach ist eine eigenständige Fassung, die nur vom Komponisten selbst erstellt und autorisiert sein kann.
Die Urtext-Ausgaben der Suiten für Cello müssen allesamt revidiert werden. Die Vereinheitlichung der Bindebögen, die auf einem traditionellen Verständnis ihrer Funktion als Artikulation von Motiven beruht, ist irreführend. Daraus resultiert, daß ca. die Hälfte der redigierten Bindebögen falsch ist. Die Abschrift von A. M. Bach ist hingegen nur in wenigen Fällen unklar und hat einen Fehlerquotient von ca. 3%, – der, versteht man die Prinzipien der Setzung der Bindebögen, nicht ins Gewicht fällt, weil diese Fehler korrigiert werden können. Es handelt sich also um eine sehr gute, vorbildliche Schreibleistung.
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Der nächste Beitrag in diesem Blog widmet sich dem Prélude aus der Suite in G-dur für Violoncello solo.
Michael Bach
Paul Zukofsky schrieb:
Ich stimme dem bei, allerdings sind manchmal die Bindebögen in den Violinwerken gleichermaßen Bogenstriche.
Bezüglich des Metrums: Aus meiner Sicht sind die notierten Taktstriche bei Bach fast immer bedeutungslos. Dies ist nicht ein „Metrum” in dem Sinne, daß jede Xte Zählzeit betont ist. Dies ist nur ein Raster, das der Konvention dient. Meistens widmet er dem Metrum überhaupt KEINE Beachtung. Warum das so viele Leute nicht verstehen, bleibt ein großes Geheimnis für mich.
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Michael Bach:
Dies ist ein Mißverständnis, das vom Titel „nicht Artikulation, aber Harmonik” herrührt, der anheim stellt, daß, wenn es nicht Artikulation ist, die Bindebögen keine Bogenstriche bedeuten. Aber, ich denke, wir stimmen an diesem Punkt überein: Die Bindebögen sind selbstverständlich Bogenstriche. Meine Analyse des Prélude spiegelt das wieder:
https://www.bach-bogen.de/blog/thebachupdate/urtext-klartext-eine-analyse-des-prelude-in-g-dur-teil-1
Die Artikulation (z. B. Bindebögen) ist traditionell immer verknüpft mit dem Motiv, dem Thema, der Melodie. Hier in den Violin- und Cellosolowerken von JSB beziehen sich die Bindebögen vielmehr auf die Harmonie. Nichtsdestotrotz sind die Bindebögen natürlich Bogenstriche. Ich weiß nicht, ob man die Bogenstriche noch „Artikulation” nennen kann. Vielleicht „Hervorhebung der Harmonie” wäre klarer.
Ich stimme deiner zweiten Bemerkung auch zu: das Metrum ist fast bedeutungslos in diesen Werken. Dies wird anschaulicher in meiner Analyse des Prélude, die bald folgen wird.