Das Werk “18-7-92” und die Sonderbriefmarke “75 Jahre Donaueschinger Musiktage”

Das Werk 18-7-92, eine Handzeichnung mit Tusche und Feder im Format 204 x 141 mm, trifft Aussagen visueller wie akustischer Natur. Die übliche Notenschrift hätte weder ausgereicht, noch wäre diese brauchbar gewesen, um den künstlerischen Gehalt des Werks darzustellen. Zu Beginn stehen zwei Worte „Ryoanji” und „Cello“, die der Schlüssel zur Deutung sind. Der Titel des Werks 18-7-92 ist schlicht das Datum der Fertigstellung.

Auf der Briefmarke 75 Jahre Donaueschinger Musiktage sind die signifikanten Elemente des Werks 18-7-92 abgebildet: die Prim fis, einige Notenköpfe (alle f(is)-Noten des Werks und das ais), Notenkreuze, handgezogene Notenlinien, der solitäre Violinschlüssel, Diagonallinien, senkrechte Trennungslinien, Schreiblinien, römische und arabische Zahlen (1, 2, 8 ,12), der Buchstabe “R” für Ryoanji. Die Briefmarke zeigt zudem den zentralen Bereich des Werks, wobei die Prim fis in den Mittelpunkt des quadratischen Briefmarkenformats rückt. Die nach rechts oben gerichtete Kinetik (Diagonallinien) ist durch eine leichte Linksdrehung um die Prim fis, als Dreh- und Angelpunkt, noch verstärkt.

Der Sonderpoststempel Donaueschingen zeigt die alleinstehende Note fis1, die Zahl „1” und den vom Notensystem abgesetzten Violinschlüssel.

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Ryoanji ist der Name des berühmten Steingartens des Zen in Kyoto mit 15 Steinfelsen auf geharktem Kies. Zwei Fragestellungen, über die traditionellerweise auf der Besuchertribüne des Ryoanji meditiert wird, sind sinngemäß für 18-7-92 bedeutsam: Warum sind die Steinfelsen in dieser Weise plaziert? Was hat es damit auf sich, daß nie alle 15 Steinfelsen auf einmal von einem einzigen Betrachtungsort aus sichtbar werden? Einer der Steinfelsen bleibt stets verdeckt durch die anderen. Erst intensive Versenkung bringt den sinnlich nicht wahrnehmbaren Stein ins geistige Bewußtsein.

Hier findet sich die aussagekräftigste Parallele zwischen dem Ryoanji und 18-7-92.

Für das Cello, ein viersaitiges Streichinstrument, habe ich eine Reihe von neuen Spieltechniken entwickelt, die die Ausdruckspalette des Instruments stark erweitern: die Mehrstimmigkeit mit dem dafür von mir geschaffenen Rundbogen ( BACH.Bogen ), das Obertonspiel bis zum 32. Partialton (5. Oktav der Saite) und die Einbeziehung der Differenztöne. An der Prim erweist sich, daß kaum ein anderes Soloinstrument dazu geeignet ist, einen Zusammenklang von zwei oder mehr Tönen auf derselben Tonhöhe tatsächlich auszuführen. Am Cello sind darüberhinaus meine graphischen Druckserien der Fingerboards entstanden, die in Wechselwirkung mit klanglichen Ereignissen oder Kompositionen stehen.

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Auf Fragen, sinngemäß zur Ryoanji-Thematik, die in 18-7-92 aufgrund der ungewöhnlichen Darstellung aufgeworfen werden, gibt das Werk selbst Antworten, die primär aus der zeichnerischen Gestaltung und der Struktur des Bildes folgen. Die Anordnung der Steine im Ryoanji, die Sichtlinien, die sie verbinden, die Proportionen und Abstände im Kiesfeld, das Geheimnis des verdeckten Steins, das findet sich vergleichbar in 18-7-92: die  Anordnung der Noten und Zahlen, die diagonalen Verbindungslinien, die Sichtlinien auf einen Bezugspunkt konvergierend, die Abstände und Proportionen zwischen den Noten, die verdeckte Note.

Konventionellerweise dient die Notenschrift dazu, eine Tonfolge unmißverständlich zu notieren. Eine Prim besteht aus zwei Noten auf der gleichen Tonhöhe und wird folglich mit zwei dicht hintereinander gesetzten Notenköpfen geschrieben. Wenn man der konsequenten Bildung von Notenpaaren in 18-7-92 folgt, muß die einzig alleinstehende Note, das fis, logischerweise als eine Prim mit zwei fis-Noten aufgefaßt  werden. Diesem Analogieschluß widerspricht jedoch scheinbar die vordergründige Tatsache, daß die zweite Note fis nicht zu sehen ist. Die freie künstlerische Zeichnung muß sich nicht an konventionellen Darstellungsformen orientieren. Im Gegenteil, in 18-7-92 wird willentlich neben dem einen fis das andere fis nicht hintereinander abgebildet, um derart einen geistigen Gehalt auszudrücken, der über die reine Notenschrift und das begrenzte, bekannte Format hinausweist.

Die Negierung der konventionellen Notierung der Prim fis kommt in der Zeichnung 18-7-92 dergestalt zum Ausdruck: a) Visuell: Die beiden Notenköpfe sind ineinander geschoben. b) Die zweite Note fis ist ausgespiegelt und befindet sich an einem spezifischen Ort jenseits der Zeichenfläche. c) Akustisch: Der Differenzton der Prim fis ist wiederum ein fis. Die Anspielung auf den verdeckten Stein des Ryoanji ist unverkennbar.

Für den Gestalter des Ryoanji-Gartens wäre es ein leichtes gewesen, die Steine so zu setzen, daß sie von jedem Standpunkt des Betrachters alle gleichzeitig zu sehen wären. Gleiches gilt für den Autor von 18-7-92: die Prim fis hätte durchaus orthographisch korrekt mit zwei Notenköpfen notiert werden können. Aber beides war nicht beabsichtigt. Der zu findende Stein, wie die zu findende Note fis, werden vom Betrachter geistig erfaßt und wahrgenommen.

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Die erste Notenzeile von 18-7-92 stellt zwei sehr weite und konträre Tonräume am Cello vor: Der erste Tonraum reicht vom tiefsten Ton auf der höchsten Saite bis zum höchsten Ton auf der tiefsten Saite. Der zweite, mehr als doppelt so große Tonraum, umfaßt alle Töne vom tiefsten Ton auf der tiefsten Saite bis zum höchsten Ton auf der höchsten Saite. Diese beiden diagonal sich überkreuzenden Tonräume stehen im übertragenen Sinn stellvertretend für das Kiesfeld des Ryoanji, in dem die nun folgenden 15 Notenköpfe, dort sind es die 15 Steinfelsen, plaziert sind. Deshalb ist die erste Notenzeile, welche den Raum für diese 15 Noten eingrenzt, klar abgesetzt von den folgenden Notenzeilen.

Die hervorgehobene Zahl „15” zu Beginn der Notensetzung spielt auf die 15 Steinsetzungen des Ryoanji an. Auch bei diesen nachfolgenden drei Notensystemen ist augenfällig, daß 7 Intervalle, also 7 Notenpaare, erscheinen, die durch senkrechte Trennungsstriche voneinander separiert, gleichwohl durch Diagonallinien miteinander verbunden sind. Jedoch gibt es eine Ausnahme, die alleinstehende, 15. Note fis. Gerade diese Auffälligkeit zieht die Aufmerksamkeit auf sich, – unabhängig davon, ob man Noten lesen kann oder nicht.

Den Notenpaaren, welche die 14 Intervallräume begrenzen, entsprechen zwei Tintenfarben, türkis und schwarz, die sich mischen. Dieser changierende Farb-”Ton” ist erkennbar. Bei genauer Betrachtung der alleinstehende  Note fis fällt deshalb auf, daß der Notenkopf nicht nur der größte des gesamten Werks ist, sondern daß er eine dunklere Färbung im Innern aufweist, sozusagen eine Note in der Note besitzt, denn: die beiden Notenköpfe sind übereinander gezeichnet. Der Betrachter kann hierin das doppelte fis-fis erkennen, das aus der Zweidimensionalität der Zeichnung herauszutreten scheint.

Weiterhin kann der Betrachter Sichtlinien identifizieren, welche die Notenköpfe ab der alleinstehenden Note fis verbinden (untere zwei Notensysteme). Diese kreuzen sich exakt an einem Punkt jenseits des linken Blattrandes, der genau so weit von diesem entfernt ist (42,5 mm), wie die alleinstehende Note fis rechts vom Blattrand sich befindet. Die Position des fis in der Zeichnung wird spiegelbildlich aus der Zeichnung heraus verlagert, befindet sich somit jenseits des Blatts.

So betrachtet, bildet die sichtbare Prim fis das Zentrum von 18-7-92: Der Bezugspunkt, der Schnittpunkt der Sichtlinien, befindet sich horizontal 85 mm links von der alleinstehenden Note fis entfernt, während rechts von ihr die Strecke bis zur entferntesten Note g2 genau nochmals 85 mm beträgt.

Die Zeichnung 18-7-92 beabsichtigt weiterhin, den Abstand der Notenpaare zu thematisieren, hierfür sind diagonale Verbindungslinien zwischen beiden Notenköpfen gezeichnet. Diese Diagonallinien sind eine weitere zeichnerische Eigenart des Werks, denn üblicherweise werden Intervalle mit zwei Noten übereinander notiert.

In 18-7-92 erscheint immer zuerst der tiefste Ton der Intervall-Noten. Infolgedessen entsteht ein einprägsamer Richtungsverlauf der Diagonallinien, welche von unten links, der zentralen Notengruppierung mit der Prim fis, nach oben rechts, dem kleinsten und höchsten Intervall streben. Dieser Richtungsverlauf der Diagonallinien weist auf die beherrschende Stellung jener Notengruppierung um die Prim fis unten links hin.

Vor dem zeitlichen wie räumlichen Erscheinen der Prim fis ist es zunächst die Länge der Diagonallinien, danach deren Steilheit, die den akustischen Tonabstand anzeigen. Nur bei der Prim fis gibt es augenfällig keine Diagonallinie.

Die Verdichtung der Notengruppierung um die Prim fis’ wird fernerhin mit namensverwandten Noten erzeugt: fis’, f'”, f'” und fis”. Es sind vollzählig alle f(is)-Noten des Werks, wobei die tiefste Note fis’ (Prim) und die höchste Note f'” einander besonders nahegerückt sind und so eine verbindende Brücke zwischen beiden Notenzeilen hergestellt wird. Ein Übersprung von einem Notensystem ins andere findet hier, augenfällig und sinngemäß, statt: Zwei fast identische Intervalle, deren höchste Note das f”‘ ist, sind links unten und rechts oben um die Prim fis’ gruppiert.

Auf der Briefmarke 75 Jahre Donaueschinger Musiktage ist genau diese ungewöhnliche und auffällige Konstellation der Noten reproduziert: Die Prim fis befindet sich in der Mitte der Briefmarke zwischen den zwei fast identischen Intervallpaaren mit ihren Diagonallinien.

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In 18-7-92 wird weiterhin in zeichnerisch freier Gestaltung auf die Prim fis hingewiesen, indem ein sehr zart geschriebener Violinschlüssel in einem Leerraum vor der Notenzeile erscheint. Dies ist unüblich, da ein Violinschlüssel in konventioneller Notenschrift immer im Fünfliniensystem und immer auf der 2. Notenlinie steht.

Hierdurch ist die ambivalente Eigenschaft einer Prim graphisch eingefangen: Einerseits ist ein Violinschlüssel für die Bestimmung der Tonhöhe der Prim notwendig. Andererseits ist eine Prim kein Intervall, sie besitzt zwei gleich hohe Töne, eine Tonhöhenskala, und somit ein Notenschlüssel, ist überflüssig.

Die Briefmarke 75 Jahre Donaueschinger Musiktage und der Sonderpoststempel Donaueschingen fokusieren genau auf die Freistellung des Violinschlüssels vor der Prim fis.

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Die arabischen Zahlen weisen auf die quantitative Anzahl der Tonstufen eines jeden Intervalls hin. Sie geben nicht ihren Tonhöhenabstand in Halbtonschritten an.

Die Diagonallinien hingegen vergegenwärtigen die akustische Distanz der Intervallnoten auf optische Art und Weise.

Tonhöhen werden in Frequenzen gemessen. Ein sehr präzises Maß für den akustischen Abstand zweier Tonhöhen ist der Differenzton (die Differenz beider Frequenzen). Bei der Prim fis ist theoretisch kein Tonhöhenabstand vorhanden. Dennoch entsteht in der akustischen Realität, am Cello, ein Differenzton. Denn im Gegensatz zu einem Sinuston enthält ein Instrumentalklang Obertöne, die untereinander Differenztöne bilden, die ein ganzzahlig Vielfaches der Grundfrequenz sind. D. h. die Prim kopiert sich selbst, aufgrund ihrer immanenten Obertöne.

Demnach existiert der theoretische Differenzton „0” in 18-7-92 nicht. Daher ist die Prim fis mit der Zahl „1” versehen, sowie als Note in der Note gezeichnet. Die Zahl „1” ist zur hervorhebenden Unterscheidung über der Prim fis positioniert, währenddessen die anderen Zahlen unter den Notenpaaren stehen. Eine Prim in konventioneller Notenschrift mit zwei hintereinander geschriebenen Notenköpfen hätte eine waagrechte Verbindungslinie zur Folge. Hier zeigt sich die Ambiguität der instrumentalen Prim: kein Intervall weil kein Tonhöhenunterschied, trotzdem ein Differenzton. Dies ist zeichnerisch dargestellt durch die fehlende diagonale Verbindungslinie in Verbindung mit der Zahl „1”.

Die Briefmarke 75 Jahre Donaueschinger Musiktage gibt auch diesen wesentlichen originären Inhalt wieder, indem auf ihr die Prim fis mit der Zahl „1” zwischen zwei Intervallen mit ihren diagonalen Verbindungslinien inklusive der Zahlen „8” und „12” enthalten ist.

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Das Werk 
18-7-92 ist auf dem vergilbten, chamois-farbenen Papier mit bläulichen Linien meines Skizzenhefts (Juli 1992,
New York bis August 1992, Wissembourg) gezeichnet. Das Schreibheft verweist, zusammen mit der  Notenschrift und den Zahlen, auf die Notwendigkeit der Lesbarkeit des Werks. Das verblichene Papier weckt Assoziationen an vergangene, historische Zeiten:
Der visuelle Kontrapunkt dieses Werks (worüber hier nichts ausgeführt wurde) läßt an die kontrapunktischen Künste des 15. und 16. Jhdts denken, die sowohl das Auge wie das Ohr ansprechen.

Im Gegensatz zu den römischen, sind die arabischen Zahlen zum Rechnen geeignet, deren Einführung in Europa gleichermaßen eine Errungenschaft des 15. Jhdts ist.

In Japan fällt die Errichtung des Ryoanji in die gleiche Epoche.

Das alte Schulheft wurde zum Skizzenheft von mir bestimmt und wurde auf diese Weise Bildträger von 18-7-92. Zufälle wie Assoziationen unterstreichen und beleuchten auf ihre Weise das Geschaffene. Denn nichts – schon gar nicht in der Kunst – wird ausschließlich geplant und konstruiert.

 

Wir konstruieren und konstruieren,
und doch ist Intuition immer noch
eine gute Sache.

Paul Klee

 

Wir konstruieren und konstruieren,
weil Intuition noch immer
eine gute Sache ist.

Josef Albers