Die Komposition “Valse Sentimentale” für Piano solo aus dem Jahr 1882 spiegelt eigentlich eine manisch-depressive Gemütsverfassung wieder, die zwischen zwei gegensätzlichen Polen des Traurigen (Moll) und Heiteren (Dur) pendelt. Weiterhin erfolgt im Mollteil ein abrupter Einbruch des Harmonischen, indem die zweite Stufe um einen Halbton erniedrigt wird. Dieses Umkippen wiederholt sich ständig in unveränderter Form, so daß die Bearbeitung dieses prägende Ereignis in freier Umgestaltung harmonisch ausleuchtet, was insbesondere Auswirkungen auf den dritten Formteil hat.
Für gewöhnlich wird in den Bearbeitungen für Streichinstrumente und Klavier der Mittelteil in der parallelen Durtonart mit seinem simplen, derben Motiv, welcher einen starken Kontrast zum Hauptthema in f-moll darstellt, ganz eliminiert und der in etwa gleich lange Schlußteil, welcher den ersten Teil fast ohne Modifikationen wiederholt, stark gekürzt. Die Reduktion auf das dominierende Mollthema ist jedoch ein substantieller Eingriff in die formale wie harmonische Gestalt des Werks: dessen janusköpfige Erscheinung wird dadurch aufgehoben, zurück bleibt nur ein wehmütiges Motiv in Moll.
Die ersten beiden solistischen Anfangsnoten stellen nicht einen konventionellen Auftakt dar. Dies zeigt sich schon allein daran, daß das Stück mit einer Viertelpause beginnt und somit der erste Takt metrisch komplett ist. Allerdings ist die harmonische Zugehörigkeit des ersten Takts noch nicht erkennbar, erst in der Wiederholung des Themas wird seine harmonische Funktion offenbar, es ist der Dominantseptimakkord der Grundtonart in Moll mit sich auflösendem Quartvorhalt. Der Eingangstakt, welcher stets beibehalten wird, hat somit eine programmatische Bedeutung.
Als markanter Übergangstakt leitet dieser Dominantseptimakkord mit Quartvorhalt in Takt 53 vom ersten Seitenmotiv (ab Takt 37) zurück zur Molltonika in Takt 54, indem der Grundton der Dominante der Tonikaparallele um einen Halbton erhöht wird, zur Terz des Dominantseptimakkords. Damit wird die Auflösung zum Mollthema mit dessen eigener Dominante eingeleitet und erfolgt nicht als Trugschluß nach der Zwischendominante. Der Übergang vom Mittelteil des Werks, der ebenfalls in der Tonikaparallele steht, zum Schlußteil in Moll erfolgt in Takt 133, wobei die Quint und Terz der Tonikaparallele mittels eines Sekundschritts zur Terz und Septim des Dominantseptimakkords der Molltonika überführt werden.
Dem einfach gehaltenen Motiv des Themas in Moll, welches aus dem aufsteigenden Dreiklang der Molltonika mit dem leittönigen Vorhalt zur Quinte und der abfallenden diatonischen Tonfolge bis zu derselben Tonhöhe der Quinte besteht, fügt sich eine Harmonieabfolge an, die durch die halbtönige Erniedrigung der zweiten Tonstufe der Grundtonart in den Takten 5 und 6 geprägt wird. Naheliegend wäre, diese erniedrigte Note als Septim der auflösenden Tonikaparallele zu deuten, die insofern zur Zwischendominante der Subdominantparallele umfunktioniert werden würde. Im Takt 6 erscheint in der Tat die Subdominantparallele, nach der Auflösung des Vorhalts zu deren Terz. Der Takt 7 führt sodann in die terzverwandte Grundtonart in Moll. Allerdings manifestiert sich er unerwartete harmonische Einschnitt in Takt 5 nicht als Zwischendominante, da sowohl die Unterstimme wie Oberstimme zur erniedrigten zweiten diatonischen Stufe geführt werden und die Mittelstimmen auf den Tonstufen des Vortakts verharren. Es entsteht als Durchgangsharmonie die Subdominante der Subdominantparallele, also ein Dur-Akkord auf der erniedrigten zweiten Stufe der Molltonika, was diese befremdende harmonische Erscheinung im Wesentlichen ausmacht. Seine Tonhöhen repräsentieren den Neapolitanischen Sextakkord.
Der zweite thematische Anlauf, diesmal mit dem Erreichen des Dominantseptimakkords in Takt 8 schon vorbereitet, endet mit einem Stagnieren der harmonischen Bewegung, wobei der viertaktige Stillstand noch zusätzlich wiederholt wird, so daß die ansonsten im gesamten Werk regelmäßig eingehaltene achttaktige Phrase um vier Takte erweitert wird. Darauf antwortet der Eintritt des Mollthemas mit dem stark betonten Dominantseptimakkord, gefolgt von der vertrauten Harmoniekette der ersten achttaktigen Phrase. Die nochmalige Wiederholung des Themas ab Takt 29 überhöht die bisherige Spitzennote bis hin zur Quint der Grundtonart. Die nachfolgende Akkordreihe beginnt, unter Auslassung der Zwischendominante, direkt mit dem Neapolitanischen Sextakkord in seiner ersten Umkehrung. In Takt 34 erscheint auch nicht mehr die Subdominantparallele, so daß die Molltonika bereits hier den vorläufigen Abschluß des einleitenden Mollteils bildet.
Das erste Seitenthema in Dur wird eingefügt (2 x 8 Takte), das Hauptthema in Moll (die 2 x 8 Takte vor diesem Seitenthema wiederholend) beendet den ersten Formteil.
Nun entwickelt sich der Mittelteil in der Tonikaparallele. Das kaum modifizierte, sehr einfach gehaltene, fast derb zu nennende Motiv wird viermal deklamiert. Die Harmonik ist so simpel wie irgend denkbar. Die Wiederholung dieses Motivs wird im originalen Klavierpart mit oktavierten Akkorden hämmernd begleitet und gesteigert. Diese klangmächtigen Akkordkaskaden lassen sich am Streichinstrument nicht darstellen. Stattdessen wird das einfältige Motiv ohne begleitende Zusätze in reinen Obertönen präsentiert.
Eingebettet in dieses robuste Dur-Motiv ist ein schlichtes, elegisches Motiv in der Molldominante, das mit dem repetierten Sextvorhalt in der Oberstimme chromatische Zusammenklänge in den Unterstimmen anklingen läßt.
Nachdem mit dem Motiv in der Tonikaparallele dieser Mittelteil abgeschlossen ist, übernimmt in Takt 133 wieder der Dominantseptimakkord des Hauptthemas das musikalische Geschehen im dritten Formteil.
Grundsätzlich wird nochmals der Anfangsteil wiederholt, samt Seitenthema, bis auf die Ausgestaltung des letztmaligen Erscheinens des Themas. Zum Abschluß des Werks wird dessen Spitzennote um eine Oktave nach oben transponiert, eine anschließende, dramatisch abstürzende Tonfolge führt in die Baßregion zur Mollsubdominante, gefolgt von der Molltonika, deren Dominantseptimakkord und dessen erneuter Auflösung zur Molltonika.
Die Bearbeitung für ein solistisches Streichinstrument variiert insbesondere den sich stets in gleicher Gestalt wiederholenden Dominantseptimakkord mit Quartvorhalt und die Begleitstimmen. Das Stück wird aus spieltechnischen und klanglichen Gründen von f-moll nach e-moll (Cello und Bratsche) respektive h-moll (Violine) transponiert, da derart die leeren Saiten und deren Obertöne erklingen können.
*)
Nach der Molldominante des Mittelteils ist in der Bearbeitung für ein solistisches Streichinstrument ab Takt 117 eine kurze Kadenz von acht Takten ad libitum vorgesehen. Diese Einlage besteht ausschließlich aus Obertönen, die bis zum 5. Partialton einer jeden Saite gehen und ausreichen, um die Hauptharmonien des Werks darzustellen: Molltonika, Mollsubdominante, Molldominante, Tonikaparallele, Parallele der Mollsubdominante und Dominante.
Michael Bach Bachtischa
Wissembourg, 2021
GEMA Work-code: 21835756